Jacob Pins Leben und Werk

Rudy Pins (rechts) mit seiner Mutter und seinem Bruder Otto (Jacob) um 1930.
Rudy Pins (rechts) mit seiner Mutter und seinem Bruder Otto (Jacob) um 1930.

Rudy Pins: Erinnerungen 1920-1948 (dt)

Jugend in Höxter, meine Abreise nach Amerika (1920-1934)

Ich wurde am 27. April 1920 in Höxter geboren. Bald danach (ich bin nicht sicher in welchem Jahr) zogen wir nach Lüdinghausen im westlichen Teil Westfalens wo wir in einem sehr alten Haus am Stadtrand lebten. Kurz nach meinem Eintritt in die erste Klasse der dortigen Volksschule zog die Familie nach Höxter zurück, wo meine Mutter nach dem Tod meines Großvaters den kleinen Laden übernahm, den er in der Marktstraße besaß.

Rudi Pins (links) um 1926 mit seinem Bruder Otto (Jacob).
Rudi Pins (links) um 1926 mit seinem Bruder Otto (Jacob).

In Höxter besuchte ich die Katholische Bürgerschule. Ich erinnere mich kaum an die Schulzeit, außer dass Frl. Döring wohl meine Lieblingslehrerin war, die mich besuchte, als ich Windpocken hatte.
Das nächste wichtige (für mich wichtige) Ereignis war die schriftliche und mündliche Aufnahmeprüfung für das KWG. Ich erinnere mich, dass am Ende dieser Prüfungen eine Reihe von Namen aufgerufen wurde. Mein Name war nicht dabei, und das Herz sank mir, weil ich dachte, dass das die Namen der Aufgenommen seien. Mir ging es aber gleich viel besser, als ich erkannte, dass es die Namen der unglücklichen Durchgefallenen waren. Das Gymnasium war in vieler Hinsicht eine sehr glückliche Zeit. Ich mochte die Schule und hatte eine Menge Freunde.
Auch zu Hause schien alles gut mit Sommerferien bei Verwandten nahe der holländischen Grenze, Wanderungen im Solling, Schwimmen in der Weser usw. Politik interessiert mich nicht, und bis 1933 blieben Hitler, die Nazis usw. nur Wörter, denen ich keine Aufmerksamkeit schenkte. Es gab gelegentliche Aufmärsche und Demonstrationen der SA, aber ich beachtete sie kaum. Da es keine jüdischen Jungen meines Alters in Höxter gab, waren alle meine Freunde natürlich Nichtjuden. Nicht ein einziges Mal hörte ich von ihnen ein unfreundliches Wort wegen meiner Religion. Das blieb so bis zu meiner Abreise aus Höxter.
Natürlich änderten sich die Dinge nach der „Machtergreifung“. Vor allem mit dem SA-Boykott jüdischer Geschäfte im Frühjahr 1933 änderte sich die Atmosphäre. Die Radioansprachen von Dr. Goebbels waren hasserfüllt, und ich spürte zu Hause beträchtliche Sorge. Noch schien in der Schule alles mehr oder weniger wie immer. Es gab Gerüchte, einige der Lehrer seien Nazis, aber ich selbst machte keine unangenehmen Erfahrungen – bis eines Tages (ich glaube, es war im Frühling 1934), als die ganze Klasse einen Wochenendausflug machen sollte, der Lehrer mich beiseite nahm und mir mitteilte, dass ich nicht mitkommen konnte. Ein harter Schlag für einen 14-jährigen Jungen.

Rudy Pins 1934 vor der Abreise in die USA

Nicht lange nach dem genannten Zwischenfall gab es Gespräche in der Familie über eine Auswanderungsmöglichkeit für mich. In den USA hatte die Roosevelt-Regierung zugestimmt, 1.000 spezielle Einwanderungsvisa für deutsch-jüdische Kinder unter 16 Jahren auszugeben. Meine Eltern beschlossen, für mich einen Antrag zu stellen. Im Herbst 1934 fuhr ich dann selbst zur Gesundheitsuntersuchung nach Stuttgart in das amerikanische Konsulat. Nicht lange nach meiner Rückkehr nach Höxter wurden meine Eltern informiert, dass ich angenommen war.
Ich glaube, meine Gefühle waren sehr gemischt – einerseits war das ein großes Abenteuer, auf das ich mich da einließ; andererseits war da die Trauer, meine Eltern zu verlassen (obwohl wir hofften, es würde nur eine vorübergehende Trennung sein), und schließlich die Angst vor der Zukunft. Meine Eltern waren natürlich ganz traurig. Sie versuchten mich zu trösten und gaben mir eine Menge Ratschläge, wie ich mich in Amerika verhalten sollte.
Als der Morgen der Abreise kam, konnte meine Mutter nicht die Kraft aufbringen, um mit mir zum Bahnhof zu gehen. Mein Vater und ich gingen langsam. Schweigend sahen wir zu, wie eine Abteilung der Wehrmacht die Marktstraße hinunter marschierte – mein letzter Eindruck von Höxter.

Die ersten Jahre in Amerika (1934-1941)

Ankunft jüdischer Kinder aus Deutschland in New York

Am Freitag, 7. Dezember 1934 kam ich in New York an. Wir waren 12-15 Kinder, 10-16 Jahre alt. Für die erste Nacht brachte man uns in ein Waisenhaus. Einige Kinder blieben in der Gegend um New York. Zusammen mit anderen bestieg ich am nächsten Tag einen Zug nach Westen. Nach ungefähr sechs Stunden kamen wir in Cleveland an, wo ich als einziger unserer Gruppe aussteigen musste.
Hier traf ich einen freundlichen Sozialarbeiter, der mich zu meiner Pflegefamilie brachte, die in einer Vorstadt von Cleveland, Cleveland Hights, lebte. Dort wurde ich von einem netten Paar und ihrem Sohn begrüßt, der ungefähr mein Alter hatte. Ich sprach praktisch kein Englisch, gerade einmal einige Sätze. Kein Problem. Sie sprachen zu mir in etwas, was sie für Deutsch hielten. Es stellte sich als Jiddisch heraus, das mir aber natürlich eher wie Chinesisch erschien. Aber wir kamen zurecht.
Dienstag war ich dann in der Schule. Zunächst hörte ich nur zu, aber nach einigen Wochen konnte ich mitarbeiten. Die Tatsache, dass meine Pflegeeltern kein Deutsch sprachen, half mir dabei, da ich sowohl zu Hause wie in der Schule Englisch sprechen musste. Aber es gab viel zu korrigieren.
Nachdem ich mein ganzes Leben bis dahin im ruhigen, ländlichen Höxter verbracht hatte, befand ich mich jetzt in einer Industriestadt mit mehr als einer halben Million Einwohner. Statt der Weser gab es den Erie-See. Da gab es Straßenbahnen, Busse und Tausende von Autos. Und die Leute schienen seltsame Namen zu haben. Die Einwohner Clevelands stammten überwiegend aus Mitteleuropa (Polen, Slowenen, Ungarn, Litauer), dazu Italiener und Iren, die alle in den riesigen Stahl- und Eisenfabriken der Stadt arbeiteten. Aber ich stellte mich darauf ein.
Jedoch gab es ein Problem: Der Sohn meiner Pflegeeltern fühlte sich vernachlässigt und wurde recht eifersüchtig. Nach ungefähr sechs Monaten wurde entschieden, dass es ich einer anderen Familie besser aufgehoben wäre. Ich zog also zu einer Familie im selben Vorort. Da gab es keinen Sohn, aber einen hübschen, langhaarigen Collie (Jessie), und wir wurden die besten Freunde.
Inzwischen schien die Schule mit mir zufrieden zu sein. Ich fand eine Menge guter Freunde und mein Englisch verbesserte sich so weit, dass ich schließlich Herausgeber der Schulzeitung wurde.
Mittlerweile wurde die Situation in Deutschland immer schlimmer, und die Probleme meiner Eltern wurden immer dringender. Ich wollte ihnen helfen, war aber als Jugendlicher nicht in der Lage, es zu können. Meine Pflegeeltern und ihre Freunde hatten in der Wirtschaftskrise schwere Verluste erlitten und waren, was finanzielle Zugeständnisse anging, sehr zurückhaltend. Sie verstanden den Ernst der Situation in Deutschland nur unzureichend.
All das belastete mich natürlich sehr. Die ganze Zeit über wechselte ich regelmäßig Briefe mit meinen Eltern, sogar noch im Krieg, bis im Dezember 1941 der gesamte Briefverkehr zwischen den USA und Deutschland eingestellt wurde.

Der Zweite Weltkrieg – POBox 1142 (1941-1946)

Als die Vereinigten Staaten am 7. Dezember 1941 in den Zweiten Weltkrieg eintraten, war ich in meinem zweiten Jahr an der Western Reserve University (heute Case Western Reserve University) in Cleveland, und sofort änderte sich mein Status zu dem eines „feindlichen Ausländers“, denn juristisch war ich noch Deutscher. Das hatte für mich jedoch nur geringe Auswirkungen. Ich hätte etwa jedes mir gehörende Radio an die Behörden übergeben müssen, jedoch gehörte das Radio, das ich hörte, meinen Pflegeeltern. Außerdem konnte ich nicht zur Armee eingezogen werden. Ansonsten war mein Leben nicht betroffen.
Nach einem Jahr in diesem Status erhielt ich die offizielle Nachricht, dass sich meine Stellung sich geändert hatte und ich nicht weiter als feindlicher Ausländer betrachtet würde. Binnen einer Woche erhielt ich auch ein Schreiben, dass ich nun zum Militärdienst eingezogen werden könne und mich im Juli stellen müsse.
Mittlerweile war natürlich jeglicher Kontakt zu meiner Familie in Höxter abgebrochen. Ich hatte keine Ahnung, was mit meinen Eltern geschah. Ich fürchtete das Schlimmste, aber hoffte natürlich weiter.
Die meisten meiner Freunde waren bereits Soldaten, und ich freute mich, es ebenfalls werden zu können. Nach drei Wochen in einem Armeedurchgangslager in Ohio wurde ich mit dem Schiff zur Grundausbildung in den Nordwesten der USA mitten in Oregon gebracht. Das Ausbildungslager lag in einer Vulkanwüste in den Cascade-Bergen. Der erste Teil der Ausbildung war reine Infanterie-Ausbildung gefolgt von sechs Wochen Pionier-Ausbildung.
Das war für mich eine völlige Veränderung – physisch, aber auch sonst. Die physische Ausbildung war anstrengend und dauerte vom frühen Morgen bis spät abends, aber ich fand damals Gefallen daran, besonders als ich mein Abzeichen im Gewehrschießen gewann.
Meine Kameraden waren ein Menschenschlag, dem ich nie vorher begegnet war. Sie hatten nicht viel Schulbildung. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal die Volksschule abgeschlossen – manche hatten kaum irgendeine Schulbildung. Ethnisch waren die meisten US-Indianer, US-Mexikaner oder „Hinterwäldler“ aus dem Gebiet der Apalachen in West Virginia, Kentucky, Georgia und Alabama. Die meisten von ihnen lernten jedoch schnell und wurden gute Soldaten. Ich kam mit ihnen gut aus, besonders seit ich ihnen beim Briefeschreiben half.
Nach weiteren drei Wochen Training in den Bergen, wo wir im Schnee schliefen (es war Januar) und nur einen Helm voll Wasser pro Tag bekamen, wurden wir per Schiff entweder zu einer Spezialausbildung oder zum Einsatz in Übersee gebracht. Ich wurde zur Ausbildung in Tarnung nach Virginia geschickt.
Während meiner Zeit in Virginia rief man mich zur Stabsstelle, wo ich einem Major vorgestellt wurde, der mich in ein eigenes Zimmer mitnahm. Er fing an mit mir zu reden, aber zunächst verstand ich ihn nicht, bis ich merkte, dass er Deutsch sprach. Er erklärte, dass er zu einer besonderen Geheimdiensteinheit gehörte und dass man an mir interessiert war. Wir sprachen kurz über meine Herkunft und dann wurde ich zum Dienst zurückgeschickt.
Offenbar nach einigem Gerangel zwischen dem Ingenieurkorps und dem Geheimdienst befahl man mir eines Tages, meine Sachen zu packen, mit dem Bus zur nächsten Stadt zu fahren und eine bestimmte Telefonnummer anzurufen. Ich tat das und sollte warten, wo ich war; jemand würde mich mit dem Jeep abholen.
Nach einer Stunde Fahrt mit dem Jeep über Land durch Virginia kamen wir zu einem kleinen, bewachten Tor und betraten, was als Post Office Box 1142 bekannt war – heute Fort Hunt. Ich wurde von einem alten, freundlichen Colonel empfangen und dann dem Staatsfeldwebel übergeben, der mir erklärte, wo ich war und wie mein Dienst aussah.

Die Verhörspezialisten von Fort Hunt, PO Box 1142

Ich erfuhr, dass POBox 1142 ein Kriegsgefangenen-Sonderlager für strategische Vernehmung war. Es war kein großes Lager und fasste nur ungefähr 200-250 Gefangene.
In der Zeit, als ich ankam, waren fast alle italienischen Gefangenen entlassen. Die deutschen Gefangenen waren zumeist ehemalige Angehörige des Afrikakorps und gefangene U-Boot-Besatzungen. Wir hatten auch einen japanischen Schiffskapitän, der nach einer schweren Verwundung in Burma gefangen genommen worden war.
Die meisten Gefangenen wohnten zu zweit oder dritt in einem Raum. Die meisten von ihnen blieben zwei bis sechs Wochen in POBox 1142, je nach dem wie nützlich die Informationen waren, die sie hatten. Sie waren nach ihrer Gefangennahme an der Front kurz befragt worden, wo entschieden wurde, ob sie für unsere Organisation von Interesse waren oder nicht. Wenn ja, wurden sie ohne Kleidungswechsel sogleich in die USA zu unserem Lager geflogen. Einige erwiesen sich natürlich als kaum interessant und wurden in normale Kriegsgefangenenlager in den USA verlegt.
Die Informationen, nach denen wir suchten, waren unterschiedlich und umfassten Gefechtsbefehle, Erkenntnisse über Spionage und Gegenspionage, technische Informationen, Zielanalysen für die Luftwaffe, politische Informationen und Informationen über die Moral der Wehrmacht und zivile Informationen ebenso wie über ökonomische Geheimnisse. So waren wir interessiert an Gefangenen mit besonderem Hintergrund, Militärausbildung und politischen und familiären Verbindungen. Ebenso interessierten uns alle anti-nazistischen Aktivitäten oder Informationen. U-Boot-Mannschaften konnten uns neben Informationen über Truppenmoral und andere geheimdienstliche Informationen auch Erkenntnisse über neueste technische Entwicklungen liefern.

Rudy Pins als Soldat in PO Box 1142
Rudy Pins als Soldat in PO Box 1142

Wir bekamen unsere Erkenntnisse durch direkte Verhöre ebenso wie mit elektronischen Mitteln. Die meisten Gefangenen waren recht kooperativ und redeten gern. Unsere Vernehmungen waren eher wie Gespräche, in denen wir über ihre Familien, ihre Herkunft und ihre Kampferfahrungen plauderten. Natürlich gab es auch immer solche, die nicht reden wollten, manche aus Pflichttreue, manche weil sie überzeugte Nazis waren. Diese Letzteren merkten nicht, dass ihre Zellen in den Wänden mit elektronischen Abhörgeräten verwanzt waren. Wenn sie in ihre Zellen zurückkehrten, prahlten sie vor ihren Zellengenossen, wie sie unseren Fragen standgehalten hatten und lieferten ihren Zellengenossen auch gleich die Antworten – während wir von einem anderen Gebäude aus lauschten.
Zu keiner Zeit setzten wir irgendwelche körperliche Gewalt, Schlaf- oder Essensentzug ein. [1] Das Schlimmste, was einigen der harten Fälle geschehen konnte, waren Andeutungen, wir könnten gezwungen sein, einige Gefangene an die Sowjets zu übergeben, um ihnen zu helfen, Russland wieder aufzubauen. Das hatte normalerweise die gewünschte Wirkung.
Nach der Invasion in Frankreich öffneten sich die Schleusen, und ein ständiger Strom von Kriegsgefangenen kam direkt von der Front in Frankreich. Wer waren all die Gefangenen? Das Das Spektrum reichte vom Gefreiten bis zum Sterne-General. Sie kamen vom Heer, der Luftwaffe, der SS, der Marine – und sie kamen von überall her bis hin zu einigen aus dem Kaukasus, die in die deutsche Armee eingetreten waren, sowie andere aus besetzten Gebieten sich zu eigenen SS-Einheiten gemeldet hatten. Oder sie waren als Volksdeutsche eingezogen worden.
Wir hatten auch eine Reihe Spione, darunter einen Ungarn, der es fertiggebracht hatte, für die Deutschen, die Briten und die Ungarn zu arbeiten, und der in der Türkei gefasst worden war, von wo er stillschweigend über die syrische Grenze abgeschoben und in unsere Hände übergeben wurde. Wo ich von Ungarn spreche: Wir hatten auch einen Ungarn mit dem interessanten Titel General der Wasserstromtruppen.
Als der Krieg zu Ende ging, hatten wir noch interessantere Gefangene. Auf einem U-Boot, das sich im Mai 1945 ergab, nahmen wir einen Drei-Sterne-General der Luftwaffe gefangen, der auf dem Weg nach Tokio war, wo er seinen Dienst als Luftwaffenattaché in der deutschen Botschaft antreten sollte. Auf dem Schiff war auch ein Fregattenkapitän auf dem Weg nach Tokio, Kai Nieschling, um dort Militärstaatsanwalt für den ganzen pazifischen Raum zu werden. Nieschling, ein NS-Führungsoffizier, war und blieb ein fanatischer Nazi.
Zwei japanische Marineoffiziere, die Blaupausen der neuen Messerschmitt-Düsenjäger nach Japan bringen sollten, begingen vor ihrer Gefangennahme Harakiri. Am Ende „begrüßten“ wir auch noch General Reinhard Gehlen von Fremde Heere Ost und seinen gesamten Stab von deutschen Offizieren und russischen Wlassow-Offizieren. Natürlich wurde er später Chef des deutschen Nachrichtendienstes.
Einer der interessantesten Gefangenen war Botschaftsrat Gustav O. Hilger, der von 1918 bis zum Überfall auf die UdSSR 1941 in der dortigen deutschen Botschaft Dienst getan hatte. Er galt damals im Westen als einer der kenntnisreichsten Personen über die UdSSR. Er hatte fast jeden getroffen und kennen gelernt, der in der UdSSR von Wichtigkeit gewesen war. Er und seine Frau Maria, Tochter deutscher Kaufleute in Moskau, sprachen fließend Russisch. Ich lernte die beiden über die folgenden wenigen Jahre sehr gut kennen, während deren sie als Berater der US-Regierung in Washington lebten.
Eine andere Gruppe von beträchtlichem Interesse war der japanische Botschafter in Berlin, General Oshima Hiroshi, der nach seiner Gefangennahme bei Bad Aussee mit seinem Führungsstab ankam. Da wir noch mit Japan im Krieg lagen, wurde er als internierter Diplomat behandelt. Sein Militärattaché General Konematsu brachte einen sehr schweren Koffer mit. Als wir ihn öffneten, entdeckten wir, dass er voll war mit englischer und Schweizer Währung sowie einer großen Anzahl goldener Schweizer Uhren. General Oshima, einer der Hauptarchitekten des Dreimächtepakts zwischen Deutschland, Italien und Japan, sprach kein Englisch, aber ausgezeichnet Deutsch. In jener Zeit nahmen wir auch eine Reihe normaler japanischer Kriegsgefangener auf, und deshalb wurde unsere Dienststelle mit jungen japanisch-amerikanischen Interrogatoren aufgefüllt.
Etwa im Juni oder Juli 1945 kamen unter dem Codenamen „Operation Paperclip“ deutsche Wissenschaftler und Techniker an. Die prominentesten unter ihnen waren Wernher von Braun und Generalmajor Dornberger. Diese Wissenschaftler wurden in Deutschland im Wettlauf mit den Russen eingesammelt, die ebenfalls begierig waren, sie in die UdSSR zu bringen. Diese Personen wurden eher wie Internierte denn als Gefangene behandelt mit weitaus größeren Freiheiten und Privilegien. Am Ende folgte eine Reihe von ihnen von Braun und Dornberger als wertvolle Mitarbeiter des Weltraumprogramms. Die meisten waren jedoch für die USA von begrenzten Interesse und wurden stillschweigend nach Deutschland zurückschickt. Nicht sehr lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Lager geschlossen und an das Amt für Nationalparks übergeben.
Meine Mit-Interrogatoren waren durchweg sympathische und umgängliche Leute. Die Stimmung war entspannt. Ihr Alter reichte von knapp zwanzig bis Mitte vierzig. Wie ich waren die meisten von ihnen Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, andere waren deutschamerikanischer oder austroamerikanischer Herkunft, und ein paar waren sogar aus der Schweiz eingewandert oder hatten an der Universität deutsche Sprache und Geschichte studiert.
Anfang 1946, als ich kurz vor der Ausmusterung stand, sprach mich jemand aus dem Pentagon an, ob ich interessiert sei, als Interrogator im Team der Strafverfolger in Nürnberg mitzumachen. Nach einigen Gesprächen willigte ich ein, mein Universitätsstudium zu verschieben und zur US-Army nach Nürnberg zu gehen.

Rudy Pins zeigt sich 60 Jahre später auf einem Foto.

Interrogator bei den Nürnberger Prozessen (1946-1948)

Nach meiner Entlassung aus der US-Armee Ende Mai 1946 kehrte ich nach Cleveland, Ohio, zurück und wartete darauf, dass die Bürokratie mir meinen Pass und meine Reisepapiere nach Nürnberg ausstellte. Im August kamen sie schließlich, und Anfang September fand ich mich auf der USS Henry Gibbins wieder, so etwas wie ein langsames Passagierschiff, das nach einer ereignislosen Atlantiküberfahrt in Bremerhaven anlegte. Die Passagiere der Henry Gibbins waren eine Mischung von Armeepersonal, für verschiedene Besatzungsaufgaben bestimmten Zivilisten wie ich und einer Reihe von Frauen und Familien von Besatzungssoldaten.
Nach kurzer Abfertigung und Instruktion bestiegen wir den alten Rheingold Express, der am Kai auf uns wartete. Entgegen dem üblichen Wirrwarr bei der Armee hatte man sich wirklich größte Mühe gegeben, unsere Zugfahrt angenehm zu gestalten, servierte ausgezeichnetes Essen und lieferte die Leute an ihrem Zielort ab.
Nach einer Übernachtung in Frankfurt fuhren wir für Nürnberg Vorgesehenen am nächsten Tag dorthin. Die Armee zeigte sich jetzt wieder wie üblich, als es bei unserer Ankunft keinen Plan gab, was man mit uns tun sollte und wo wir bleiben konnten. Es war Wochenende, alle waren weg. In der Verwirrung wurden wir irgendwohin gebracht, Camp Lucky Strike genannt, was sich als Lager für Displaced Persons entpuppte. Wir waren nicht so glücklich.
Am Montag versuchten wir es erneut. Die Armee hatte sich vom Wochenende bekrabbelt und erinnerte sich, dass diejenigen von uns, die für die Nürnberger Prozessen vorgesehen waren, im Grand Hotel wohnen sollten. Im Vergleich zu Camp Lucky Strike war das eine recht erfreuliche Veränderung. Sicher war es nicht luxuriös, aber doch recht komfortabel. Das Hotel war ausschließlich für IMT-Angehörige (International Military Tribunal) reserviert, und sogar zur Lobby war der Zugang für alle Anderen verboten, einschließlich nicht zum IMT gehörenden Armeemitgliedern.
Am nächsten Morgen trat ich meinen Dienst im Justizgebäude an, wo ich meine Kollegen traf, darunter einige, mit denen ich bei POBox 1142 zusammengearbeitet hatte. Fast alle Beschäftigten waren Amerikaner. Die Russen waren dabei abzureisen, aber es gab eine Reihe von anderen Angehörigen der Alliierten, darunter Franzosen, Briten, Belgier, Norweger und Tschechen.
Mein erster Auftrag war die Übersetzung und Zusammenfassung der Vernehmungen, die andere mit einigen der Angeklagten und Zeugen durchgeführt hatten. Das Gerichtsgebäude wimmelte von einer Vielzahl junger Anwälte, die für die Prozesse abgestellt waren. Die meisten von ihnen sprachen kein Deutsch, so dass es nötig war, alle Vernehmungen zu übersetzen.
Diese Auftrag zog sich ungefähr über zehn Tage, nach denen ich erfahrene Interrogatoren als Beisitzer bei Vernehmungen begleitete. In dieser Zeit ging der Prozess gegen die Hauptangeklagten – Göring, Hess, Ribbentrop – dem Ende zu. Alle Angeklagten wurden von ihren Anwälten begleitet. Zusätzlich war bei jeder Vernehmung ein deutscher Stenograph anwesend. Diese Stenographen waren außerordentlich tüchtige junge Frauen. Ich erinnere mich nicht, je einen Fehler in den Abschriften gefunden zu haben.
Eines der ersten Verhöre, an dem ich teilnahm, war eins von Hermann Göring, geführt von unserem Chefankläger Dr. Robert Kempner. Am Tisch einem Mann gegenüberzusitzen, der noch vor Kurzem einer der mächtigsten Männer des Dritten Reiches gewesen war, weckte in mir gemischte Gefühle. Hier saß ein Mann, der für so viel Leid verantwortlich war – mein eigenes wie das von Millionen anderer –, ein Mann, der hochdekoriert und ordenbehangen in seiner Uniform auf der Weltbühne geprotzt hatte. Da saß er jetzt – in schlichtem Uniformrock, ohne Orden und einzig darauf bedacht, dass wir unsere Zigaretten mit ihm teilten. Aber er war durchaus nicht eingeschüchtert. Er war völlig selbstsicher und sah sehr gesund aus, zumal er im Gefängnis deutlich abgenommen hatte. In der Folgezeit sollte ich noch als Beisitzer oder sogar Befrager an den Verhören der meisten Hauptangeklagten teilnehmen, außer Hess, Streicher, Fritsche, Funck und Raeder.
Als die Hauptverfahren zu Ende gingen, wurde ich als Interrogator bei den so genannten Folgeprozesse eingesetzt, von denen es vierzehn gab. Ich war für die so genannten Ministerprozesse zuständig, und zwar für das Außenministerium ebenso wie das Innenministerium. Meine Aufgabe war es, die ermittelnden Staatsanwälte zu unterstützen und die Informationen aus den Angeklagten und Zeugen herauszuholen, die die Beteiligung der Ministerien an den Kriegsverbrechen bewiesen, etwa an den Deportation der Juden anderer Länder in die Vernichtungslager, an der Umsetzung des „Nacht-und-Nebel-Erlasses“, an der Festnahme und Hinrichtung von Geiseln usw.

Protokoll einer Vernehmung von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker durch Rudolph Pins am 28.3.1947 (Anfang). [Institut für Zeitgeschichte ZS–528-4]
Protokoll einer Vernehmung von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker durch Rudolph Pins am 28.3.1947 (Anfang). [Institut für Zeitgeschichte ZS–528-4]

Ich vernahm die meisten Beamten dieser Ministerien einschließlich der SS-Verbindungsoffiziere, deren Aufgabe es war, die Regierungen Rumäniens, der Slowakei, Griechenlands und anderer Ländern zu drängen und anzutreiben, bei der Deportation der Juden mitzuarbeiten.
Ein besonderes Augenmerk galt einem ziemlich miesen Kerl namens Edmund Veesenmayer, ein undurchsichtiger Charakter, der alles getan hatte, die jugoslawische Regierung zu bearbeiten. 1944 hatte er als Botschafter und Bevollmächtigter des Führers in Ungarn die Absetzung und Verhaftung des ungarischen Reichsverwesers Admiral Horthy eingefädelt.
Danach hatte er eifrig Hand in Hand mit Eichmanns Leuten gearbeitet, um die Deportation der ungarischen Juden zu vereinfachen. Natürlich bestritt er immer wieder alles. Aber nach einem Besuch bei Admiral Horthy in seinem Haus in Bayern (er stand unter leichtem Hausarrest) und einer Reise nach Ungarn, wo ich den ehemaligen SS- und Polizeiführer Berger im Gefängnis in Budapest ebenso wie Eichmanns Sonderbeauftragten für die Slowakei, Ungarn und Griechenland Dieter Wisliceny in seiner Zelle in Bratislava vernahm, hatte ich alle Beweise, die ich brauchte.
Ein anderer ziemlich übler Zeitgenosse war Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Innenministerium und Mitverfasser der schändlichen Nürnberger Gesetze. Er war auch verantwortlich für verschiedene speziell für die besetzten Gebiete erlassene Strafgesetze sowie die Umsetzung der Rassengesetze ebenso wie für die Maßnahmen der Ausplünderung. Er vertrat auch das Innenministerium bei der berüchtigten Wannsee-Konferenz.
All diese Arbeit hielt mich ziemlich auf Trab, aber ich versuchte auch möglichst viel von der Gegend zu sehen. Nürnberg, das im Krieg völlig zerstört worden war, versuchte wieder hochzukommen, aber es war lange Zeit ein mühsamer Kampf. Wenn immer möglich versuchte ich mich beim Skifahren in der Nähe von Berchtesgaden oder an den bayerischen Seen zu entspannen.
Im Winter 1947 bot man mir eine Fahrt nach Norden an, und ich nutzte die Gelegenheit zu einem Besuch in Höxter. Ich füllte eine große Tasche mit Kaffee, Zigaretten, Schokolade usw. für Freunde in Höxter. Am späten Nachmittag machten wir in Kassel eine Pause. Als wir zum Auto zurückkamen, war die Tasche weg, so dass ich fast mit leeren Händen in Höxter ankam. In Höxter besuchte ich das KWG ebenso wie Dr. und Frau Bender, die eng mit meinen Eltern befreundet gewesen waren.
Nach fast 18 Monaten in Deutschland beschloss ich, dass es Zeit für mich war, wieder an die Universität zurückzugehen und mein Studium abzuschließen. Es war eine interessante Erfahrung gewesen.

[1] Das betonte Rudolph Pins noch einmal ausdrücklich, als er 2014 vom CBS zu den brutalen Foltermethoden der USA in Afghanistan und im Irak befragt wurde: “You don’t get people to talk by beating them or waterboarding or anything of that nature,” said Rudolph Pins a 94-year-old former Nazi interrogator told CBS News’ Seth Doane. He said that in contrast, the strategy was to make the prisoners comfortable so they would talk, “If you make life for certain prisoners fairly easy, they will relax,” he explained.

Aufgezeichnet 2007, Übersetzung: Fritz Ostkämper