Jacob Pins Leben und Werk

Jacob Pins, Weser (1975)
Jacob Pins, Weser (1975)

Jacob Pins und seine Wurzeln in der deutschen Kultur

Schon der Begriff Kultur und erst recht der Begriff der deutschen Kultur ist eine Herausforderung und ähnlich wie der Kunstbegriff nicht eindeutig einzuschnüren. Aber halten wir uns an Jacob Pins und versuchen, etwas vom geistigen und kulturellen Hintergrund, von der persönlichen Geschichte und Entwicklung, aber auch von den Emotionen des Menschen Jacob Pins zu erfahren.

Mehr als einmal, privat und öffentlich, hat Jacob Pins von seiner schönen Kindheit und Jugend in Höxter gesprochen. In seiner Familie hat er die Geborgenheit erlebt, die Voraussetzung für seine souveräne und offene Persönlichkeit war: „Nie habe ich meine Eltern streiten gehört.“ In Höxter erlebte er Freundschaften, sein Abenteuerspielplatz waren die Weser, der Ziegenberg, die Berge und Wälder der weiteren Umgebung. Er frönte seiner Sammelleidenschaft und saugte alles auf, was mit Kunst zu tun hatte. Zum 100. Todestag von Goethe 1932 schnitt er ein Porträt des Dichters als Linoldruck: „Ich bin von deutscher Kultur durchtränkt.“ Wir haben diesen Druck in einem Wust von Unterlagen entdeckt. Ebenso gibt es Zeichnungen einer Faustillustration, die Jacob Pins in den ersten Jahren seines Kunststudiums anfertigte. Seine Illustration zu Michael Kohlhaas von Kleist 1953 war ihm sehr wichtig und zeigt ebenfalls seine enge Beziehung zur deutschen Literatur. Die Geschichten von Wilhelm Busch waren für ihn ein Schatz, auf den er ständig zurückgriff.

Die Familie Pins war in Deutschland assimiliert. „Erst Hitler zeigte mir, dass ich Jude bin“, so Jacob Pins. Der Weg nach Palästina war eine erzwungene Flucht und keine Auswanderung aus Überzeugung. Seine Zukunftspläne sahen einmal anders aus. Er teilte dieses Schicksal mit vielen deutschen Juden, für die dieser Weg eine schmerzvolle Entwurzelung bedeutete. Die deutsche Sprache hatte sich tief eingeprägt, obwohl Englisch und Hebräisch ihm keine Schwierigkeiten bereiteten. Deutsch war die Sprache, die er nach einem Sprachverlust durch einen Schlaganfall 2001 zuerst wieder sprechen konnte. Seine philippinische Haushaltshilfe musste daher notgedrungen Deutsch lernen. In seinem Haus in Jerusalem war Besuch aus Deutschland immer herzlich willkommen, wie die vielen Eintragungen in seinem Gästebuch belegen.

Jacob Pins hatte einen tiefen Bezug zur Landschaft seiner Kindheit. In Palästina suchte er den deutschen Wald. Bäume und Wälder in fantasievollen Formen oder in kräftigen Farben waren ein häufiges Motiv. „Von Jerusalem aus ist Jacob Pins gern mit Elsa nach Abu Gosh gefahren. Die Straße steigt bis auf 710 m an und verläuft entlang eines mit Bäumen bepflanzten Hanges, von dem aus der Blick weit über das Land schweifen kann. Jacob Pins liebte diese Landschaft, weil sie ihn an die Gegend im fernen Europa erinnerte, in der er seine Kindheit und Jugend verbrachte: das Weserbergland.“ (Christine Longère: Jacob Pins, Künstler – Sammler – Freund)

Fünfmal hat er die Weser unter dem Ziegenberg gemalt. Zusätzlich gibt es eine Zeichnung und einen Holzschnitt mit dem gleichen Motiv. Wir dürfen diese Motivwahl schon als Ausdruck einer emotionalen Verbundenheit verstehen. Seine Freude bei der Begegnung mit dieser Landschaft bestätigen alle, die Gelegenheit hatten, mit Jacob Pins während seiner Aufenthalte in Höxter Ausflüge in die Umgebung zu machen.

Reisigsammler, Holzschnitt, 1950, Kat. 59
Reisigsammler, Holzschnitt, 1950, Kat. 59

Ähnliches können wir auch bei seinen Bildmotiven von alten Häusern, Gassen und Winkeln feststellen, gleich ob sie aus Jerusalem, Akko, Safed oder dem Elsass stammen, sie könnten ähnlich auch in Höxter sein. Wenn es in Jerusalem gelegentlich schneite, versuchte Jacob Pins dieses Erlebnis in Bildern festzuhalten, weil es Erinnerungen weckte.

Um einen Zugang zum Werk des Künstlers zu bekommen, müssen wir uns dieser Wurzeln bewusst sein. Das betrifft nicht nur die Motive, sondern auch die spezifische Formensprache. Natürlich ist es problematisch, gerade hieran eine exklusive nationale Eigenheit festzumachen. In der Geschichte der Kunst fand immer ein reger und fruchtbarer Ideenaustausch über Ländergrenzen und Kontinente hinweg statt. Was wären Albrecht Dürer und viele andere Künstler ohne ihre Italienaufenthalte. Ohne den Franzosen Gauguin, den Holländer van Gogh und den Norweger Munch wäre der deutsche Expressionismus nicht denkbar. Sie alle wurden durch den japanischen Holzdruck und durch die afrikanische Plastik beeinflusst. Der Versuch, eine reine nationale Kunst zu definieren, ist im Nazideutschland kläglich gescheitert. Trotzdem erkennen wir eine eigene Handschrift, einen Duktus, wenn wir die Expressionisten aus Dresden, München, dem Rheinland oder Berlin betrachten. Pins bekennt sich als Schüler des deutsch-jüdischen Expressionisten Jacob Steinhardt, er hat aber seinen eigenen Ausdruck gefunden. Er hat den Holzschnitt als bevorzugtes Medium ganz in der Tradition der deutschen Expressionisten ausgewählt. Sie haben dem Holzdruck zu einem bedeutenden Stellenwert gerade in der deutschen Kunstgeschichte verholfen. In engem geistigem Austausch entwarfen sie eine utopische Welt und ein neues Lebensgefühl gegen die verstaubte, dekadente wilhelminische Ära. Die Suche nach dem Ursprünglichen, Unverfälschten, nach dem seelischen Ausdruck und nicht das Gefällige waren bestimmend für die Bilddarstellung. Sie suchten die vereinfachte Formensprache aus Fläche und Linie. Fasziniert vom sinnlich-haptischen Erlebnis der Holzverarbeitung und vom handwerklichen Aspekt des Druckvorgangs war der Holzschnitt das ideale Medium, ein Ausdruck von

Kraft und Leben. Das Material Holz und der Druckvorgang waren elementarer Bestandteil des Kunstwerks. Das Verhältnis zum Holz war gerade bei Jacob Pins eine Obsession. Er trat, wie er sagte, mit dem Holz in einen Dialog, wenn er die natürlich gewachsenen Holzstrukturen, Maserung und Astnarben in die Bildkomposition integrierte.

In seinen Motiven von Menschen und Tieren erweist sich Pins als hervorragender Beobachter. Mit sparsamen Mitteln entstanden wunderbare Bilder, die einen Charakter und Emotionen auch bei Tieren erkennen lassen, so bei dem Titelbild der Ausstellung. Das „Pferd“ erinnert an ein Motiv von Franz Marc. Im Gegensatz zu Marc, bei dem das Pferd esoterisch überhöht wird, bleibt Pins auf der Erde, das Tier wird zum Partner. Wegen der nahen Frontalsicht wirkt das Pferd zunächst mächtig, bedrohlich. Pins gelingt es mit zwei entgegengesetzten Diagonalen ohne Perspektive, eine Tiefenwirkung in dem sonst flächigen Bildaufbau zu erzeugen. Die Diagonalen werden durch den Nacken und das Rumpfende mit dem Schwanz des Pferdes gebildet. Die schmaleren Beine mildern die kraftvolle Bewegung des Galopps, lassen das Tier schweben. Die leichte Kopfneigung und die Mimik zeigen einen ernsten und gleichzeitig sanften Ausdruck. Die Augen machen uns die Kreatur endgültig zum Freund.

Ähnliches entdecken wir auch bei den Menschenbildern „Der Raucher“ und „Die Trinker“. Die Gesichter berühren uns, wir spüren Gefühle und antworten mit Gefühlen. Die vereinfachten Formen werden sinnlich und unmittelbar. Jede Linie ist wichtig, keine Linie zu viel oder zu wenig, um diese Wirkung zu erzeugen. Auch bei den Farben der Ölbilder erleben wir diese expressive Kraft. Zu Recht wird eine Nähe zu den französischen Fauves beschrieben, aber auch zu Franz Marc und August Macke. Gegenüber dem Bildmotiv werden die Farben selbstständiges und gestalterisches Element. Sie erzeugen einen Rhythmus und klingen in uns nach. Für Pins waren sie das Herbeizaubern der Farbeindrücke aus Mitteleuropa. Dabei verfällt er aber nicht in fantastische Farbanalysen, große Theorien waren ihm fremd. Nur in wenigen Bildern wird er programmatisch. Die fünf Blätter der Apokalypse stehen zwar in der Bildgestaltung fast epigonal in der Tradition des Expressionismus. Für Pins sind es aber keine visionären Bilder, sondern eine persönliche Verarbeitung der geschehenen Katastrophe, den Holocaust. Programmatisch wird Pins, wenn er Partei ergreift für das Elend der Blinden und Bettler, oder wenn er die Verführbarkeit der Menschen oder die Abwesenheit Gottes anklagt. Die ausdrucksstarken Gebärden sowie die Darstellung eines verinnerlichten Gefühls erinnern an Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach.

Selbstporträt, Holzschnitt, 1993, Kat. 328
Selbstporträt, Holzschnitt, 1993, Kat. 328

Pins kümmerte sich nicht um den Zeitgeist des Marktes. Die Maxime, dass Kunst sich ständig überbieten und neu erfinden muss, war nicht seine Art. Er blieb sich treu. Die Kunstgeschichte war ihm vertraut und Einflüsse sind immer wieder bei ihm zu erkennen. Pins war als Künstler ein Konservativer und trotzdem „reflektiert sein Werk moderne Existenz und Befindlichkeiten angesichts von Krieg, Verfolgung, Massenmord und einer Zivilisation, in der tragfähige Bindungen verloren gegangen sind“, so Manfred Strecker in der Monografie. Bedingt durch seine Emigration hat Pins Erinnerungen besonders bewahrt. Es waren seine deutschen Wurzeln, die ihm die Anerkennung durch das israelische Kunstestablishment erschwerten – „zu deutsch“ war lange Zeit eine Disqualifikation. Pins war ein souveräner Weltbürger und frei von Ideologien. Er öffnete sich der ostasiatischen Kunst, deren Formensprache er in sein Werk integrierte, und schuf damit seinen individuellen unverwechselbaren Stil.

Anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Höxter habe ich in meiner Laudatio zu erklären versucht, wie der Weg nach Höxter trotz seiner traumatischen Erfahrungen möglich wurde. Ein Grund war seine deutsche Verwurzelung. „Die Heimat und die ersten Menschen, mit denen man zu tun hat, die Landschaft, in der man aufwächst, das prägt einen und das kann man nicht einfach abhaken“, so Marion Gräfin Dönhoff. Und ein Zitat von Jacob Pins anlässlich eines Interviews zum 30. Jahrestag des Staates Israel 1978: „Ich kann den Deutschen nicht untreu werden. Auch heute ist dieses Land ein Jugendtraum.“ Kurz nach seinem Besuch Höxters anlässlich der Erinnerungsausstellung zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1988 in der Marienkirche hat Jacob Pins die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten. Dies war mehr als ein zeitlicher Zufall. Er selbst hat dies nicht publik gemacht, es war für ihn ein Bedürfnis, nicht eine äußere Notwendigkeit, und sicherlich erst möglich, weil er ein verändertes Deutschland erlebt hatte. Wir erinnern uns alle, wie bewegt und glücklich er 1999 bei der Eintragung in das Goldene Buch und später bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde gewesen ist. Dies wurde immer wieder von seinem Bruder und seinen Freunden in Israel bestätigt. Nur so ist seine Stiftung zu erklären. Kurz vor seinem Tod drückte er ausdrücklich seinen Dank für all das aus, was in Höxter entstanden war. Es war ihm wichtig, wieder in Höxter zu sein.

Dieter Schuler zur Eröffnung der Ausstellung am 6.9.2009