Jüdische Bürger in Höxter

Die Kaufmannsfamilie Netheim
in Ottbergen und Höxter

Die Familie Netheim in Ottbergen

Die Geschichte der Familie Netheim in Ottbergen, die ihren Namen 1808 nach dem Flüsschen Nethe annahm, reicht mindestens bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts zurück, und die Nachkommen waren hier bis zur Deportation der letzten fünf Familienangehörigen im Jahr 1942 ansässig.

Gumpert, der erste bekannte Vorfahr wohnte schon 1784 mit seinem Knecht Jacob in Ottbergen, und seine Witwe gab 1788 den Wert des Vermögens mit 125 Rtlr. an. Über die Tochter Gella (Helene) Gumpert (1777–1812) ist bekannt, dass sie nach ihrer Heirat mit Seligmann Salomon Eichholz (* 1772) in Willebadessen lebte. Der Sohn Feibelmann Gumpert Netheim (1770–1842) blieb dagegen in Ottbergen. Er heiratete die im benachbarten Bruchhausen geborene Brendel Frohsinn (1772–1853), die den vorehelichen Sohn Herz (1790-1854) mit in die Ehe brachte, und hatte mit ihr vier weitere Kinder, von denen der jüngste Sohn Salomon später die Höxteraner Familie Netheim begründete.

Der Grabstein für Levi Netheim (1802/04–1875) und seine Tochter Bertha (1849/50–1875) in Ottbergen (Foto: Lödige)
Der Grabstein für Levi Netheim (1802/04–1875) und seine Tochter Bertha (1849/50–1875) in Ottbergen (Foto: Lödige)

Feibelmanns ältere Tochter Gelle (1800–1882) lebte mit dem in Löwendorf geborenen Jacob Frankenberg (1801–1888) in Vörden. Zu ihren Nachkommen zählt auch der später in Höxter lebende Zweig der Familie Frankenberg. Gelles jüngere Schwester Hanna (Hewe) (1805–1887) hatte mit dem Steinheimer Kaufmann Simon Hochheimer (1809–1845) fünf Kinder hatte, von denen Abraham (1834–1904), der älteste Sohn, mit seiner in Beverungen geborenen Frau Johanna Udewald (1839–1902) sieben Kinder hatte.

Feibelmanns Sohn Levi Netheim (1802/04–1875) blieb in Ottbergen und hatte mit der in Bruchhausen geborenen Röschen Frohsinn (1815–1875) fünf Töchter. Vier starben jung oder blieben unverheiratet. Auch die Ehe der mit dem Schermbecker Viehhändler Abraham Schönbach (1853–1930) verheirateten Dina Netheim (1846–1931) blieb ohne Kinder, und so nahmen sie Ida Marchand (* 1881), eine Tochter von Abrahams Schwester Julie mit David Marchand, als Haustochter an und zogen Anfang der 1920er Jahre mit ihr nach Ottbergen.

Anzeige von 1931
Anzeige von 1931
Erzwungene Entlassung einer „arischen“ Angestellten
Erzwungene Entlassung einer „arischen“ Angestellten

Zusammen betrieben sie dort in der Brakeler Straße 8 eine Gastwirtschaft mit Kolonialwarenhandel. Bereits 1923 bestimmte das kinderlose Ehepaar die Nichte Ida als Erbin, und 1931 wurde sie von der inzwischen verwitweten Dina Schönbach adoptiert und führte seitdem den Namen Ida Netheim-Marchand. Während die Adoptiveltern 1930 und 1931 in Ottbergen starben und dort auf dem christlichen Friedhof begraben wurden, führte Ida Netheim-Marchand die Gastwirtschaft auch im Dritten Reich weiter. 1937 musste sie eine „arische“ Angestellte entlassen, und ihr Haus wurde in der Pogromnacht 1938 mit dem schwarzen Schriftzug „Jude“ beschmiert. Zusammen mit den vier anderen Angehörigen der Familie Netheim wurde sie im Juli 1942 aus Ottbergen deportiert und ermordet. Die Einrichtung der Gastwirtschaft wurde in einer örtlichen Gaststätte versteigert.

Der Grabstein von Herz Netheim (1790–1854) auf dem Friedhof in Ottbergen (Foto: Lödige)
Der Grabstein von Herz Netheim (1790–1854) auf dem Friedhof in Ottbergen (Foto: Lödige)

In Ottbergen blieb auch Feibelmanns Adoptivsohn Herz Netheim (1790–1854), wo er mit der aus Borgentreich stammende Jeanette Bernstein (1809–1847) fünf Kinder hatte, von denen der Sohn Salomon (1812–1900) später die Höxteraner Familie begründete.

Während eine Tochter jung starb, heiratete ihre Schwester Blondine (Blondchen) Netheim (* 1844) den Viehhändler Moritz Steinberg (1848–1897) in Kaunitz und zog mit ihm anscheinend nach Österwiehe und Liemke, wo fünf Kinder geboren wurden, über die nur wenige Informationen vorliegen. Der 1882 in Liemke geborene und später in Oelde wohnende Sohn Louis wurde im Dezember 1941 nach Riga deportiert, während der Sohn Albert (* 1890) im Oktober 1941 zunächst nach Litzmannstadt (Lodz) und dann im September 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) verschleppt wurde.

Herz Netheims Sohn David (* 1839) hatte in Lemgo mit seiner Frau Helena Neufeld, vier Kinder und betrieb mit der Familie Neufeld ein Textilgeschäft. Die in Leer mit Sally Rosenberg (1873–1957), Mitinhaber der Firma Wohl-Wert, verheiratete Tochter Klara (* 1873) konnte mit ihrem Mann 1936 nach Palästina emigrieren, wohin die als de Vries verheiratete Tochter Mary (* 1901) 1939 folgte. Davids Sohn Julius (1876–1943) wurde Ingenieur und war in Berlin mit der aus Breslau stammenden Paula/Pauline Groeger (1874–1944) verheiratet. Obwohl er als Kriegsversehrter aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war, wurde er im September 1942 mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert. Dort kam er im Mai 1943 um, während seine Frau im Mai 1944 zur Ermordung nach Auschwitz verschleppt wurde. David Netheims Tochter Else (* 1881) lebte mit ihrem Mann, dem in Hannover geborenen Siegmund Goldmann (1878–1935), in Herford, wo dieser Rabbiner war. Sie wurde im März 1942 mit ihrer Tochter Ruth Lilli (* 1912) nach Warschau deportiert, wo sich beider Spuren verlieren. Dagegen gelang es der Tochter Käthe (* 1908) nach Palästina zu emigrieren.

Levi Netheim und seine Nachkommen

Passantrag Hermann Netheims für sich und seine Familie
Passantrag Hermann Netheims für sich und seine Familie
Hermann Netheim 1920 mit seiner Familie
Hermann Netheim 1920 mit seiner Familie

Herz Netheims weiter in Ottbergen lebender Sohn Levi Netheim (1838–1923) heiratete 1872 die in Driburg geborene Lina Victor (1847–1937) und hatte mit ihr sieben Kinder. Während die älteste Tochter schon nach wenigen Wochen starb, wanderte der älteste Sohn Hermann (1873–1957) 1892 in die USA aus, wo er 1901 naturalisiert wurde. Er lebte später mit seiner Frau Hannah und den beiden 1913 und 1917 geborenen Kindern Selma und Marian als Inhaber eines Wäschegeschäft in Newark. Mehrfach kehrte er in den folgenden Jahrzehnten zu Besuchen nach Ottbergen zurück.

Rosa Weinstein, geb. Netheim mit ihrem Mann Hugo
Rosa Weinstein, geb. Netheim mit ihrem Mann Hugo

Die übrigen fünf Kinder Levi Netheims blieben in Deutschland und wurden Opfer des Holocaust. Die 1878 geborene Tochter Rosa Netheim heiratete den in Jever lebenden Viehhändler Hugo Weinstein (* 1875). Deren einzige Tochter Gertrud (1908–1998) ging 1936 mit ihrem Mann Manfred Luss (1905–1986) nach Palästina. Nachkommen leben heute in Israel und den USA. Die Eltern blieben zunächst noch in Jever, wo Hugo Weinstein mit 14 anderen jüdischen Männern in der Pogromnacht 1938 verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verbracht wurde. 1939 verkaufte die Weinsteins ihr Haus, konnten dort aber noch wohnen bleiben, bis sie Jever wegen der Vorbereitung des deutschen Einmarschs in Holland verlassen mussten und zu einer Schwägerin nach Hamburg zogen. Von dort wurden sie am 6.12.1941 nach Riga deportiert. Dort verlieren sich ihre Spuren.

Auch Rosas Schwester Laura (* 1878) verließ Ottbergen. Sie lebte mit dem aus Deisel (Trendelburg) stammenden Futtermittelhändler Moritz Ohmsberg (1879-1942) in Hersfeld, wo drei Kinder geboren wurden. Im April 1939 meldeten sich die Eltern mit dem zweiten Sohn Harry (* 1909) nach Frankfurt um, von wo die Mutter Laura und der Sohn Harry 1942 nach Polen deportiert wurden und verschollen sind, nachdem der Vater Moritz 1942 in Frankfurt den Freitod gewählt hatte.

Abgangszeugnis Ludwig Ohmsberg vom Gymnasium in Hersfeld
Abgangszeugnis Ludwig Ohmsberg vom Gymnasium in Hersfeld

Der älteste Sohn Ludwig (1907–1943) wurde nach der Pogromnacht 1938 bis Anfang März 1939 in das KZ Dachau verbracht und musste 1940 bei einer Ziegelei im Frankfurter Stadtteil Bonames Zwangsarbeit leisten. Am 11.7.1941 wurde er wegen angeblicher Arbeitsverweigerung, „Rassenschande“ und Nichtbefolgen der Verdunkelungsverordnung verhaftet, über das Gestapo-Gefängnis Frankfurt in das KZ Buchenwald verschleppt und ein gutes Jahr später über das KZ Groß-Rosen nach Auschwitz deportiert, wo er am 17.1.1943 ermordet wurde.

Verlobungsanzeige Berti Ohmsbergs, <i>Aufbau</i> 23.7.1949
Verlobungsanzeige Berti Ohmsbergs, Aufbau 23.7.1949

Nur die Tochter Berti (* 1912) überlebte den Holocaust. Sie zog bereits Ende 1935 von Hersfeld nach Frankfurt und lebte dann von Februar 1943 bis April 1944 illegal in Berlin, bis sie von dort am 18.4.1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie überlebte jedoch und wanderte 1947 über Ungarn und England in die USA aus, wo sie sich 1949 mit dem ebenfalls aus Deutschland stammenden Fritz Cohn verlobte. Sie starb in New York.

Lauras Schwester Beate (Beatha) (* 1875) heiratete 1900 den in Wagenfeld geborenen Gustav Kugelmann (1872–1934) und lebte mit ihm später in Bremen, Münster und Bielefeld, wo jeweils ein Sohn geboren wurde: Erich in Bremen, Hans Günter in Münster und Ludwig in Bielefeld, wo die Familie bis zu Gustav Kugelmanns Tod wohnte. Die beiden jüngeren Söhne Hans-Günter (1914–1995) und Ludwig (1916-1992) gingen 1935/36 nach Palästina ins Exil und lebten später als Jochanan Kugelmann und Ari Galon mit ihren Familien im Kibbuz Maajan Zwi in Israel. Nachkommen sind dort heute noch ansässig.

Antrag Beate Kugelmanns auf Zuzugsgenehmigung des Sohns Erich in Ottbergen, 1939
Antrag Beate Kugelmanns auf Zuzugsgenehmigung des Sohns Erich in Ottbergen, 1939

Der älteste Sohn Erich Kugelmann (* 1910) zog dagegen 1937 mit der Mutter für ein gutes Jahr nach Ottbergen zu Beates Schwester Paula und ging dann nach Bamberg, um sich auf die Auswanderung vorzubereiten. Von dort wurde er nach der Pogromnacht für einige Wochen in das KZ Dachau verschleppt. Nach seiner Entlassung zog er wieder zu seiner Mutter nach Ottbergen, bevor er am 30.4.1939 nach Schweden emigrieren konnte. Seine Mutter Beate musste dagegen in Ottbergen bleiben, von wo sie am 31.7.1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Dort starb sie am 26.12.1942.

Julius Netheim (2. v. rechts) 1926 mit dem Vorstand der Synagogengemeinde vor der Synagoge in Norden
Julius Netheim (2. v. rechts) 1926 mit dem Vorstand der Synagogengemeinde vor der Synagoge in Norden

Auch Levi Netheims Sohn Julius Louis (* 1883) verzog aus Ottbergen. Er heiratete 1912 in Norden Anna Levy (* 1883), Tochter des dortigen Predigers und Hauptlehrers der Jüdischen Schule, und hatte mit ihr zwei Töchter. Zunächst bei dem dortigen Getreidehändler Samson angestellt, machte er sich 1926 selbständig und war danach in Norden Großhändler für Getreide, Futter- und Düngemittel. Er gehörte dem Vorstand der Synagogengemeinde an und engagierte sich auch in der jüdischen Wanderfürsorge, die sich um jüdische Durchreisende kümmerte. Seit 1933 wurde der Getreidehandel in Norden nach und nach arisiert, und bereits vor der Pogromnacht musste Julius Netheim im Sommer 1938 auch das Haus und Grundstücke verkaufen und mit seiner Frau in eine Wohnung ziehen. Als die Juden vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen in Holland aus Ostfriesland vertrieben wurden, musste das Ehepaar im März 1940 zu Julius’ Schwester Paula nach Ottbergen umziehen und wurde von dort zusammen mit den anderen dort lebenden Angehörigen im Juli 1942 nach Auschwitz transportiert.

Lotte Hahn und Ruth Zadek (2. u. 3. v. l.), die Töchter von Julius und Anna Netheim, mit Ruths Kindern und Enkeln um 1986 in Israel
Lotte Hahn und Ruth Zadek (2. u. 3. v. l.), die Töchter von Julius und Anna Netheim, mit Ruths Kindern und Enkeln um 1986 in Israel

Die Tochter Lotte (1913–2006), die als Kindergärtnerin während der Sommermonate auch auf Norderney arbeitete, ging 1933 nach Amsterdam und bekam dort 1934 in Amsterdam einen Sohn (Henk Netheim, 1934–2019), der von einer holländischen Familie adoptiert wurde. Anfang 1936 ging sie nach Südafrika ins Exil, wo sie mit ihrem Mann Werner Salo Aron in Johannesburg ein Geschäft betrieb. Nach der Scheidung (1940) heiratete sie 1941 den aus Berlin stammenden Heinrich Hahn (1906–1985) und lebte mit ihm in Durban. Nachkommen leben heute in den Niederlanden.

Ruth Zadek, geb. Netheim mit den ebenfalls aus Norden emigrierten Zvi (Erich) Weinberg und Rudy Wolff 1985 beim Besuch in Norden
Ruth Zadek, geb. Netheim mit den ebenfalls aus Norden emigrierten Zvi (Erich) Weinberg und Rudy Wolff 1985 beim Besuch in Norden

Ihre Schwester Ruth (* 1919) emigrierte im April 1936 mit Hilfe der zionistischen Auswandererorganisation der Jugend-Alija nach Palästina und lebte zunächst im Moschaw Nahalal, wo sie in der Landwirtschaft arbeitete und die Sprache erlernte. Ab 1938 verdiente sie dann als Schneiderin und Dienstmädchen ihr erstes Geld. Sie heiratete den in Inowrocław (heute Polen) geborenen Theo(dor) Zadek mit dem sie in Haifa lebte, und hatte mit ihm zwei Töchter. Nachkommen leben heute in Israel.

Verbot der Aufnahme weiterer Juden im Haus
Verbot der Aufnahme weiterer Juden im Haus

Levi Netheims Tochter Paula Netheim (* 1881) verbrachte ihr ganzes Leben in Ottbergen. Sie blieb unverheiratet und führte das Kolonialwarengeschäft der Eltern in der Nethestr. 4 weiter, in das im Dritten Reich nacheinander auch ihre Geschwister Beate (zeitweise mit dem Sohn Erich) und Julius mit seiner Frau Anna einziehen mussten. 1938 wurde das Haus arisiert, und im Juli 1942 wurden sie alle zusammen deportiert.

Die Deportation der Juden aus Ottbergen

Über Datum und Ziel der Deportation der fünf Angehörigen der Familie Netheim aus Ottbergen herrschten lange Zeit Unklarheiten. Inzwischen ist aber gesichert, dass die ältere Beate Kugelmann (* 1875) am 31.7.1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und dort am 26.12.1942 umkam. Dagegen wurden die vier jüngeren Familienangehörigen Paula Netheim (* 1881), Ida Netheim-Marchand (* 1881) und Julius Netheim (* 1883) mit seiner Frau Anna (* 1883) bereits am 8.7.1942 aus Ottbergen abtransportiert und dann am 11.7.1942 über Bielefeld zur Ermordung nach Auschwitz deportiert, wie auch die Meldekarten nahe legen und wie der Ottberger Fritz Wiesemann berichtet:

„Am 8. Juli 1942, einem Mittwoch, werden die Jüdinnen Ida Netheim-Marchand genannt ›Schönbach‹, aus der Brakeler Straße 8 und Paula Netheim, geb. am 10.5.1881, aus der Nethestraße 4 […] in den Osten deportiert. Ich selbst sah den Personenzug mit alten preußischen Personenwagen, in den die Juden einsteigen mussten, auf dem zweiten oder dritten nördlichen Gleis des Ottberger Bahnhofs. Ich kam an dem Mittag mit dem Zug vom König-Wilhelm-Gymnasium aus Höxter. Der alte reaktivierte Polizist Körner stand auf dem Bahnsteig und überwachte die Aktion.“

Selbst wenn die Einzelheiten unbekannt bleiben, steht damit fest, dass die letzten fünf noch im Dritten Reich in Ottbergen wohnenden Angehörigen der Familie Netheim Opfer des Holocaust wurden, ebenso wie ihre in Höxter lebenden Verwandten.

Die Familie Netheim in Höxter

Die Grabsteine von Jettchen und Salomon Netheim in Höxter
Die Grabsteine von Jettchen und Salomon Netheim in Höxter

Denn auch in Höxter hatten sich Angehörige der Familie Netheim angesiedelt, und noch heute erinnern hier mehrere Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof an sie. Feibelmann Netheims jüngster Sohn Salomon (1812–1900), der sich mit seiner aus Borgholz stammenden Frau Henriette (Jettchen) Goldstein (1819–1901) zunächst in Godelheim, Nr. 17 (heute Gastaus Driehorst) niederließ, wurde nicht nur zum Begründer der Familie Netheim in Höxter, sondern auch der Familie Nettheim in Australien, wohin zwei seiner Söhne auswanderten, die zahlreiche Nachkommen hatten. Zwei Töchter Salomons starben als Kleinkinder, und über die Tochter Helena (* 1855) ist bisher nur bekannt, dass sie die zweite Frau des aus Sandebeck stammenden Isaak Kohn (* 1849) war und später in Wolfenbüttel lebte.

Der Grabmal von Cosmann Nettheim in Sydney, Rookwood Cemetery
Der Grabmal von Cosmann Nettheim in Sydney, Rookwood Cemetery

Als erster wanderte 1867 Salomons zweiter Sohn C/Kossmann Net(t)heim (1851–1907) als Sechzehnjähriger nach Melbourne aus, wo er im Lederwarenhandel eines ebenfalls aus Deutschland zugewanderten „Onkels“ Anstellung fand. Er bewährte sich gut, so dass er 1876 mit seinem Kollegen John Farleigh nach Sydney geschickt wurde, um dort eine Tochterfirma aufzubauen, aus der einige Jahre später die Firma Farleigh, Nettheim and Co hervorging, die mit Näh- und Schleifereibedarf zur Lederverarbeitung handelte und zu der bald auch eine Gerberei hinzukam.

Der Grabstein für Gustav Nettheim auf dem Rookwood Cemetery in Sydney
Der Grabstein für Gustav Nettheim auf dem Rookwood Cemetery in Sydney

In Sydney heiratete Cosmann Nettheim die dort geborene Eva Levinson (1855–1920) und hatte mit ihr elf Kinder, deren Nachkommen noch heute in Australien leben. Ebenso wie die Familie wuchs auch die Firma immer weiter, und wenn auch die Kinder andere Berufe ergriffen, blieb Cosmann Nettheim doch bis zu seinem Tod 1907 einer der Direktoren. Sein Testament belief sich auf über 75.000£ (heutiger Wert etwa 11 Mio AU$), und auch seine Geschwister in Deutschland wurden mit kleineren Summen bedacht.

Um 1880 wanderte auch Kossmanns jüngster Bruder Gustav Netheim (1856–1920) nach Australien aus und machte dort seinen Weg. Er hatte mit seiner in Australien geborenen Frau Estelle Cohen (1873–1969) drei Söhne, deren Nachkommen heute in Australien leben. Auch er lebte in Sydney und war dort 30 Jahre lang bis zu seinem Tod Direktor die Stiefelmanufaktur McMurtrie and Co, Ltd.

Während zwei Söhne Salomon Netheims so in Sydney den australischen Zweig der Familie begründeten, zog der Vater Salomon mit den noch ledigen Söhnen Philipp und Levy zwischen 1875 und 1880 nach Höxter, denn das kleine Dorf Godelheim bot sicher auf die Dauer keine Entfaltungsmöglichkeiten. In Höxter eröffnete die Familie an der Ecke Westerbachstraße 14 / Ecke Rosenstraße 2 ein Geschäft für Konfektions- und Putzwaren, Wäsche und Stoffe, in dem aber auch Kleider- und Anzugstoffe gegen von den Kunden gelieferte Schafwolle eingetauscht wurden.

Die Westerbachstraße mit dem Geschäft Netheim (vorragendes Eckhaus links)
Die Westerbachstraße mit dem Geschäft Netheim (vorragendes Eckhaus links)

Nach dem Tod der Eltern 1900 und 1901 setzten die Söhne Philipp (1850–1913), verheiratet mit Rosalie Albert (1857–1923) aus Aachen, und Levy (1852–1919), verheiratet mit Helene Grünewald (1853–1933) aus Borgholz, gemeinsam die Familiengeschäfte fort. Während das Ladengeschäft anscheinend im Wesentlichen von Levy Netheim und später dessen Sohn Paul betrieben wurde, kümmerte sich sein Bruder Philipp als Prokurist vor allem um die Geschäftsführung und die Verwaltung des sonstigen Vermögens, zu dem auch ein Vierfamilienhaus in der Nagelschmiedstraße 14/14a und ein Garten im Brückfeld gehörten. Levy gehörte dem Vorstand des Schützenvereins an; Philipp war Geschworener bei Gericht, und in seinem Haus fanden die Versammlungen des Israelitischen Frauenvereins statt. Beide starben jedoch recht jung, und so wurde das weiterhin unter dem Namen Salomon Netheim geführte Geschäft von Levys Witwe Helene übernommen.

Die Kinder von Levy Netheim

Der Doppelgrabstein für Levy und Helene Netheim in Höxter
Der Doppelgrabstein für Levy und Helene Netheim in Höxter

Levys und Helenes älteste Tochter Else Netheim (1885–1950) heiratete 1911 den Viehhändler Simon Eduard Meyer (* 1874) aus Barge (Oldenburg), mit dem sie in Delmenhorst lebte und die Kinder Hans Bernhard (* 1912) und Annelise Anita (* 1917) bekam. Die Familie wanderte im Dritten Reich nach Australien aus, wo sie die Unterstützung der Verwandten fanden. Ebenso auch Levys zweite Tochter Grete Netheim (1886–1971) die im Dritten Reich bereits 1934 frühzeitig ebenfalls nach Australien ins Exil ging. Erwin Netheim (1890–1904), der jüngste Sohn der Familie, besuchte das KWG, starb aber bereits mit 14 Jahren.

Paul Netheim 13-jährig 1901 als Untertertianer am KWG
Paul Netheim 13-jährig 1901 als Untertertianer am KWG
Paul Netheim 1928 am Steuer seines Autos; im Hintergrund die Rosenstraße mit der Seitenansicht des Geschäfts
Paul Netheim 1928 am Steuer seines Autos; im Hintergrund die Rosenstraße mit der Seitenansicht des Geschäfts

Der Sohn Paul Netheim (* 1888) besuchte nach der Jüdischen Schule bis zur Einjährig-Freiwilligen Reife 1906 das KWG und trat nach der Lehrzeit in Göttingen und Geestemünde und dem Tod des Vaters in das Geschäft ein. Im Ersten Weltkrieg war als Fahrer eingesetzt. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg trat er als Geschäftsführer in das nach dem Tod des Vaters von der Mutter fortgeführte Geschäft ein, in dem weiterhin vor allem Manufakturwaren und Konfektionskleidung angeboten wurden. Davon zeugen zahlreiche Zeitungsanzeigen. 1928 heiratete er die aus Ovenhausen stammende Sophie Katz (* 1897). Die Ehe blieb jedoch kinderlos.

Anzeigen des Geschäfts Netheim aus den 1920er Jahren
Anzeigen des Geschäfts Netheim aus den 1920er Jahren

Bis in die 1930er Jahre hinein hatte das Geschäft eine sichere Geschäftsgrundlage in der Stadt, aber schon kurz nach Beginn des Dritten Reiches bot die Familie 1933 ihre Häuser zum Verkauf an. Vielleicht hoffte Paul Netheim, wie seine Schwester Grete nach Australien auswandern zu können. Er führte das Geschäft jedoch weiter, obwohl die Fenster schon bald mit Kalkfarbe beschmiert wurden.

Bereits 1929 war Paul Netheim erstmals zu einem der Vorsteher der jüdischen Gemeinde gewählt worden, und diese Funktion behielt er auch in den folgenden Jahren. Beim Pogrom 1938 wurde er mit den anderen männlichen Juden im Rathaus eingesperrt und danach für einige Wochen im KZ Buchenwald in „Schutzhaft“ genommen. Nach dieser Zeit konnten sich die Juden kaum noch auf der Straße zeigen, und Paul Netheim wurde eines Abends schwer misshandelt.
Als der Kaufmann Paul Netheim, wohnhaft in Höxter, Rosenstr. 2, eines Abends in der Nähe des Judenfriedhofs seinen täglichen Abendspaziergang unternahm, wurde er von mehreren Männern plötzlich überwältigt und derart verprügelt, daß er Verletzungen an Kopf und Armen davontrug und sich einige Zeit in stationäre Behandlung begeben mußte. Das Geschehen verbreitete sich sehr rasch in der Stadt. Um ihr rohes Verhalten zu rechtfertigen, klagten die betreffenden Männer den Juden Netheim völlig zu Unrecht an, er habe sich lediglich in der Absicht, ,arische‘ Frauen zu überfallen und sich an ihnen zu vergehen, in der Nähe des Friedhofs aufgehalten. Nach diesem Zwischenfall ließen sich nur noch selten Juden auf den Hauptstraßen blicken. (Annegret Köring, S. 27)

Trotzdem blieb er weiterhin Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, die inzwischen den Status einer Kultusgemeinschaft verloren hatte und zum einfachen Verein degradiert worden war. Paul Netheim nahm diese Aufgabe ernst, wie die Tatsache bezeugt, dass er sein Haus in dieser Zeit den Höxteraner Juden als geheimen Versammlungs- und Gebetsort zur Verfügung stellte, da die Synagoge nach ihrer Zerstörung beim Pogrom 1938 und wegen der Gefahr für die Besucher durch das Versammlungsverbot nicht mehr benutzt werden konnte.

Trotz des Versammlungsverbotes trafen sich die Juden des öfteren heimlich im Hause ihres Glaubensbruders Netheim. Dort feierten sie ihren Sabbat und verrichteten ihre Gebete, da eine Zusammenkunft in der Synagoge zu riskant geworden war. (Annegret Köring, S. 41)

In seiner Funktion als Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde führte Paul Netheim die Verhandlungen, als ein Teil des Friedhofs verkauft werden musste und als die Synagoge in die Hand eines Nachbarn überging. Er musste erleben, wie auch das Wohnhaus seiner Familie 1939 arisiert wurde und er selbst mit seiner Frau zur Familie Kaufmann in die Marktstraße 27 ziehen musste. Und er musste mit ansehen, wie seine jüdischen Mitbürger nacheinander aus Höxter in die Konzentrationslager des Dritten Reiches deportiert wurden. Mit der letzten Gruppe der fast ausschließlich älteren Höxteraner Juden wurden auch Paul Netheim und seine Frau Sophie im Aug. 1942 nach Theresienstadt deportiert, von wo Gustav Uhlmann, der einzige Überlebende der KZs aus der Stadt Höxter, im Sommer 1944 eine letzte Nachricht über ihn und seine Frau erhielt. Im Okt. 1944 wurden Paul Netheim und seine Frau Sophie zusammen zur Vernichtung nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.

Die Kinder von Philipp Netheim

Die 1944 zerschlagenen und heute im Ehrenmal in Höxter eingefügten Grabsteine von Philipp und Rosalie Netheim
Die 1944 zerschlagenen und heute im Ehrenmal in Höxter eingefügten Grabsteine von Philipp und Rosalie Netheim

Auch Max Netheim und seine Schwester Emmy, die beiden Kinder von Levys Bruder Philipp Netheim, erlebten die Verfolgungen der Juden im Dritten Reich. Es gelang ihnen aber rechtzeitig, dem Schicksal der Deportation durch die Flucht in Ausland zu entkommen. Emmy Netheim (1886–1965) war mit dem Beverunger Kaufmann K/Carl Griesbach (1883–1939?) verheiratet. Dieser wurde Anfang März 1933 wegen seiner ihm aus einigen Ortschaften des Kreises Holzminden vorgeworfenen Bankgeschäfte gewaltsam ins Beverunger Rathaus gezerrt und im dortigen Sitzungssaal „körperlich gezüchtigt“. Er musste jedoch am nächsten Abend wieder entlassen wurde, weil die Vorwürfe offenbar unberechtigt waren. Diese Erfahrung veranlasste jedoch die Familie, mit den beiden Kindern Ilse (* 1912) und Günter (* 1917) im Sept. 1935 nach Palästina ins Exil zu fliehen, wo heute noch Nachkommen leben.

Max Netheim 1901
Max Netheim 1901
Max Netheim (vorn links) 1907 beim Abitur
Max Netheim (vorn links) 1907 beim Abitur

Emmys Bruder Max Netheim (1889–1949) ging nach dem Besuch der jüdischen Schule zum KWG und legte hier 1907 das Abitur ab. Danach absolvierte er in München ein Jurastudium, wo er sich einer zionistischen Studentenverbindung im „Bund jüdischer Corporationen“ anschloss, der die Bildung eines jüdischen Staates in Palästina propagierte. Im Winter 1908 hielt Max Netheim dort z.B. einen Vortrag über „Die jüdische Auswanderung“. 1912 schloss er sein Studium in Erlangen mit der Promotion ab und absolvierte danach seine Referendarzeit unter anderem in Altona. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und war Soldat eines Garde-Train-Bataillons.

Danach ließ er sich als Rechtsanwalt und Notar in Osnabrück nieder und eröffnete eine florierende Praxis. Aus einer unehelichen Verbindung hatte er 1921 einen Sohn, dessen Nachkommen noch heute in Deutschland leben. 1922 heiratete Max Netheim die aus Vöhl (Bezirk Kassel) stammende Brunhild/Hilde Kaiser (1898–1994), mit der er die Kinder Marianne (* 1923) und Eva Helene (1927–2012) bekam. 1924 gründete er mit anderen einen jüdischen Tennisverein, der bis ins Dritte Reich hinein bestand und einen eigenen Tennisplatz hatte, dessen Miteigentümer Max Netheim war.

Schon kurz nach Beginn des Dritten Reiches begann im April/Mai 1933 eine vom „Stürmer“ mit einem Hetzartikel unterstützte Diffamierungskampagne gegen Max Netheim. In diesem Zusammenhang ist sicher auch der Versuch zu sehen, der Tochter Marianne als „nichtarischer Schülerin“ im Mai 1933 den Besuch des Osnabrücker Städtischen Oberlyzeums zu verwehren, ein Versuch, der jedoch scheiterte, weil Max Netheim im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war.

Trotz oder vielleicht auch wegen solcher Ereignisse ließ sich Max Netheim, der schon zuvor Vorsitzender der zionistischen Ortsgruppe Osnabrück und ein entschiedener Gegner der „liberalen“ Juden war, 1933 in den Vorstand der jüdischen Gemeinde Osnabrück wählen. Das Dritte Reich stellte jedoch seine wirtschaftliche Existenz zunehmend in Frage. Vom Entzug der Zulassung bei Gericht im April 1933 war Max Netheim sicher als ehemaliger Frontkämpfer noch ausgenommen, aber 1935 verlor er sein Notariat, und am 30.11.1938 folgte schließlich das ausnahmslose Berufsverbot für jüdische Anwälte, und ihnen blieb nur das Recht, als sogenannte „Konsulenten“ für die Juden tätig zu sein.

Aus einem Brief Max Netheims an die Stadt Höxter, 9.11.1936
Aus einem Brief Max Netheims an die Stadt Höxter, 9.11.1936

Wie sich die wirtschaftliche Lage für Max Netheim immer mehr verschlechterte, verdeutlicht 1936 ein Briefwechsel mit der Stadt Höxter, die von ihm die Anlegung einer Aschengrube an dem Geschäftshaus der Familie in der Westerbachstr. 14 forderte, das ihm als Erbe zugefallen war. Wie die anderen Juden wurde auch Max Netheim in der Pogromnacht verhaftet und für ein paar Wochen in eines der Konzentrationslager verschleppt. Sein Haus wurde arisiert. Darauf entschloss sich die Familie im Januar 1939 zur Flucht aus Osnabrück in die Niederlande und emigrierte noch im Dezember desselben Jahres über ein Flüchtlingslager in Rotterdam weiter in die USA, wohin Brunhildes Bruder bereits vorher geflohen war.

Allan T. Mendels 2013 in Höxter an den Gräbern seiner Ururgroßeltern Salomon und Jettchen Netheim
Allan T. Mendels 2013 in Höxter an den Gräbern seiner Ururgroßeltern Salomon und Jettchen Netheim

Vermutlich aus sprachlichen Gründen nahm Max Netheim seine Anwaltstätigkeit nicht wieder auf, sondern betrieb im Gloucester County im Staat New York eine Hühnerfarm. Seine Frau, ausgebildete Lehrerin, arbeitete zeitweise als Putzfrau. Er starb 1949 mit 60 Jahren in New Jersey, seine zehn Jahre jüngere Frau Hilde 1994 in New York. Die Tochter Eva (1927–2012) studierte Kunst. Sie wurde Kunsttherapeutin und hatte mit ihrem Mann Sydney Mayro drei Kinder. Ihre mit dem aus Deutschland stammenden Ernst Mendels verheiratete Schwester Marianne (1923–1990) bekam ebenfalls drei Kinder, von denen der älteste Sohn Allan 2013 zum Besuch nach Ottbergen und Höxter kam.

Fritz Ostkämper, 24.9.2017
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de