Jüdische Bürger in Höxter

Familie Weißenstein – Kaufleute, später Bankiers

Die Vorfahren der späteren Höxteraner und Holzmindener Familie Weißenstein (Weissenstein) sind schon im 18. Jahrhundert in Borgholz verzeichnet, und man kann vermuten, dass sie 1808 ihren bürgerlichen Namen nach dem „Weißen Stein“ an der Grenze zwischen den Gemarkungen Borgholz und Dalheim annahmen. Allerdings findet man diese Geländebezeichnung auch in anderen Gegenden Deutschlands.

Ab 1814 stellte die Familie mit Calmon Weißenstein in Borgholz den Kantor und Lehrer der jüdischen Gemeinde, bis die jüdische Gemeinde ihn 1840 trotz seines hohen Alters von vermutlich fast 80 Jahren seines Amtes enthob und die Verpflichtung zur Zahlung von Ruhegeldern zurückwies. Allein auf die Großmut der Gemeinde könne er sich bei einem etwaigen Hilfsgesuch berufen. Seine Lebensdaten sind nicht bekannt.

Calmon Weißenstein zog daraufhin nach Höxter, wo sich seine Tochter Blümchen (* 1772) und ihr aus Blomberg stammender Mann Calmon Katzenstein (1760–1837) bald nach 1790 niedergelassen hatten. Das Ehepaar Katzenstein hatte 15 Kinder, von denen die meisten verzogen. Aber ihre ledige Tochter Eva und die verwitwete Tochter Sophie Marienthal lebten noch in der zweiten Jahrhunderthälfte in Höxter.

Nach seiner Schwester Blümchen zog 1812 auch Calmons Sohn Simon Weißenstein (1781–1859) nach Höxter, wo er in den folgenden Jahrzehnten als Trödler und Lumpensammler mit eher geringem Einkommen verzeichnet wird. 1818 heiratete er die aus Gemünd (Usingen) stammende Johanne Lazarus (1794–1842) und hatte mit ihr acht Kinder, von denen aber mindestens zwei schon jung starben.

Als sich die Eltern für ihren Sohn Lazarus (* 1823) 1840 um eine Lehrstelle bemühten und für die Stelle eines Nagelmachers in Bochum eine Abage erhielten, fand sich eine Lehrstelle in Paderborn, für die der „Verein […] zur Bildung zur Bildung von Elementarlehrern und zur Beförderung von Handwerken und Künsten unter den Juden“ eine jährliche Unterstützung bewilligte. – Die Tochter Zipora Sophie (* 1825) verließ Höxter 1865 nach ihrer Heirat mit Abraham Sauer aus Wehdem.

Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf: 1842
Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf: 1842

Simon Weißensteins ältester Sohn Isaak (* 1821) war offenbar reisender Hausierer. Auf ihn dürfte sich eine Meldung von 1842 beziehen, wonach der „Fleckseifenhändler Isaac Weissenstein aus Höxter […] angeblich seinen von der dortigen Kreisbehörde im Januar d. J. ausgefertigen Reisepaß in den ersten Tagen d. M. in der Nähe von Kaiserswerth verloren“ habe. Weiteres über ihn ist nicht bekannt.

Meyer Weißenstein und seine Nachkommen

Zeitungsanzeige vom 15.12.1883
Zeitungsanzeige vom 15.12.1883

Nach einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, in der Simon Weißensteins Sohn Meyer (1833-1914) kaum die Abgaben für Feuereimer zahlen konnte und an Auswanderung dachte, begann die Blütezeit der Familie in Höxter, vielleicht auch dank der Mitgift seiner Frau. Meyer verdiente seinen Lebensunterhalt offenbar zunächst im Handel mit Leinen und den entsprechenden Rohstoffen. So gab er etwa auch den geernteten Flachs und die „Heede“ (Werg) zum Verspinnen an größere Spinnereien weiter und lieferte den bäuerlichen Produzenten dann die Garne zurück, so dass sie in den Haushalten zu Stoffen verwebt werden konnten, denn Webstühle standen damals ja fast in allen Haushalten.

Zeitungsanzeige vom 10.10.1874
Zeitungsanzeige vom 10.10.1874

Dazu passt, dass er 1871 die Nähmaschinenfabrik W. Siess kaufte, die er bis 1882 zusammen mit dem Baugewerkschullehrer Marcus Emanuel betrieb und die acht Angestellte beschäftigte. Möglicherweise handelte er auch mit landwirtschaftlichen Produkten, und in diesem Zusammenhang könnte es zu einem Konflikt mit dem im Herbst 1873 aus Fürstenau nach Höxter gezogenen Samuel Bachmann gekommen sein, der mit Futtermitteln, Getreide und anderen landwirtschaftlichen Gütern handelte. So ist eine Zeitungsanzeige überliefert, mit der sich Meyer Weißenstein bei Bachmann offenbar für eine Beschimpfung oder Beleidigung entschuldigt.

Anzeige in einer Schrift des Holzmindener Verkehrsvereins (um 1910)
Anzeige in einer Schrift des Holzmindener Verkehrsvereins (um 1910)

Meyer Weißensteins Geschäft florierte jedoch, und so konnte er 1877 sein neu errichtetes Haus an der Corveyer Allee 13 beziehen (das Haus steht heute nicht mehr). Dazu trug sicherlich auch bei, dass er neben dem Handelsgeschäft schon in den frühen Jahren auch Geld an Kunden und andere verlieh, woraus bereits im 19. Jahrhundert das Bankgeschäft M. Weißenstein hervorging. Spätestens 1901 wird Meyer Weißenstein dann ausdrücklich als „Banquier“ in Höxter genannt, und im selben Jahr gründete er auch eine Filiale in Holzminden, die in der Folgezeit von seinen Söhnen weitergeführt wurde.

1863 heiratete Meyer Weißenstein die in Gelsenkirchen geborene Antoinette Herz (1839–1867), die ebenso wie eine Tochter schon nach wenigen Jahren verstarb. In zweiter Ehe heiratete er die in Horn geborene Emma Benjamin (1846–1903) aus Horn, mit der er elf Kinder bekam, von denen aber fünf tot geboren wurden oder als Kleinkinder starben.

Die zerstörten Grabsteine von Meyer Weißenstein (o.) und seiner zweiten Frau Emma (u.) im Ehrenmal. Der 1950 noch sichtbare Grabstein seiner ersten Frau Antoinette (r.) im Gedenkmal ist heute zerfallen.
Die zerstörten Grabsteine von Meyer Weißenstein (o.) und seiner zweiten Frau Emma (u.) im Ehrenmal. Der 1950 noch sichtbare Grabstein seiner ersten Frau Antoinette (r.) im Gedenkmal ist heute zerfallen.
Das Abgangszeugnis für Sigmund Weißenstein
Das Abgangszeugnis für Sigmund Weißenstein

Der Sohn Sigmund Weißenstein (1869–1924) besuchte nach der Vorschule am KWG (1876/1877) ab 1879 das Gymnasium, ging aber 1885 aus der Untertertia ab, „da er leider an zunehmender Schwerhörigkeit litt“, wodurch „seine Leistungen sehr beeinträchtigt“ wurden, wie es in dem Abgangszeugnis heißt. Er wurde Kaufmann und lebte bis zu seinem Tod als Bankier in Hannover.

Sigmund Weißenstein war mit der aus Lauenau (Springe) stammenden Selma Windmüller (1880–1940) verheiratet. Seine Frau war später Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim. Von dort wurde sie im September 1940 zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf gebracht und dann am 27.9.1940 in der Euthanasie-Tötungsanstalt Brandenburg ermordet.

Sigmund Weißensteins Sohn Egon, der 1906 in Hannover geboren wurde und dort später als Ingenieur arbeitete, wurde im Dezember 1941 nach Riga deportiert. Dort verlieren sich seine Spuren.

Vermerk über die nachträgliche Versetzung Sally Weißensteins in die Obertertia des KWG
Vermerk über die nachträgliche Versetzung Sally Weißensteins in die Obertertia des KWG

Über Meyer Weißensteins weiteren Salli (Sally) (1871 – um 1914?) ist wenig bekannt. Wie seine Brüder besuchte er nach der jüdische Schule in Höxter ab 1880 ebenfalls das KWG. Er ging 1889 mit dem Zeugnis der einjährig-freiwilligen Reife ab, um Kaufmann zu werden. Anscheinend starb er um 1914.

Links Salli Weißenstein 1888 in der Obertertia und rechts sein Bruder Robert 1888 in der Sexta und 1891 in der Quarte des KWG
Links Salli Weißenstein 1888 in der Obertertia und rechts sein Bruder Robert 1888 in der Sexta und 1891 in der Quarte des KWG

Mehr Informationen gibt es über seinen Bruder Robert Weißenstein (1879-1929). Auch er besuchte nach der jüdischen Schule ab 1888 das KWG, musste aber 1897 ohne Abschluss der Mittleren Reife abgehen, weil er zweimal die Abschlussprüfung nicht bestand. Er wurde Kaufmann und trat zunächst in das Bankgeschäft der Familie ein, in dem er dann zusammen mit seinem Bruder Abraham gen. Albert im Eckhaus Obere Straße / Haarmannplatz die Holzmindener Filiale führte.

1910 heiratete er die in Einbeck geborene Rosa Krieger (* 1889), mit der er in der Grubestraße 9 wohnte. 1920 zogen die beiden nach Hildesheim, wo Robert Weißenstein zusammen mit einem auch Holzminden stammenden Kompagnon und wohl mit Kapital aus der elterlichen Familie unter dem Namen Schönbach & Co. in der Bernwardstraße 28 ebenfalls ein Bankgeschäft eröffnete Er starb 1929 in Hildesheim.

Nach seinem Tod heiratete seine Witwe den in Drmoul (dt. Dürrmaul), Böhmen geborenen Bankier Emil Fleischner (* 1877) und lebte mit ihm in Berlin-Charlottenburg. Von dort wurden sie am 29.11.1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Klassnefoto der Sexta 1881 mit Albert Weißenstein (nicht identifizierbar)
Klassnefoto der Sexta 1881 mit Albert Weißenstein (nicht identifizierbar)

Meyer Weißensteins Sohn Abraham gen. Albert (1872–1934) blieb dauerhaft in Höxter bzw. Holzminden. Wie seine Brüder besuchte er nach der jüdischen Schule das KWG (1881–1887) und wechselte dann für ein Jahr auf das Gymnasium in Holzminden, kehrte aber 1888 wieder ans KWG zurück und ging schließlich 1890 mit dem Zeugnis der einjährig freiwilligen Reife ab, um Kaufmann und Bankier bei seinem Vater zu werden.

Um 1905 heiratete er die in Wertheim geborene Cäcilie Held (* 1881), und der älteste Sohn Erich wurde 1906 noch in Höxter geboren. 1914 zog Albert Weißenstein nach Holzminden, wo er zusammen mit seinem Bruder Robert die Holzmindener Filiale der väterlichen Bank als offene Handels-Gesellschaft weiterbetrieb. In Holzminden wurde 1912 auch der zweite Sohn Heinz geboren.

Zeitungsanzeigen des Bankgeschäfts Weißenstein aus den Jahren 1912 bis 1915
Zeitungsanzeigen des Bankgeschäfts Weißenstein aus den Jahren 1912 bis 1915
Anzeige im Adressbuch Höxter 1922
Anzeige im Adressbuch Höxter 1922

Mit dem Wegzug seines Bruders Robert nach Hildesheim übernahm Albert Weißenstein, der im Ersten Weltkrieg dem Landsturm angehört hatte, das Bankgeschäft allein und verlagerte es nach Holzminden, während das Bankgeschäft an der Marktstraße 29 in Höxter zu einer Zweigstelle wurde und in der Folgezeit in die Grubestraße 23 verlagert wurde.

Aus dem Jahr 1922 sind erste antisemitische Vorfälle dokumentiert. Im Sommer dieses Jahres stimmten vier Schüler des Holzmindener Gymnasiums auf dem Rückweg von einer Feier zum 1100-jährigen Bestehen Corveys auf dem Fahrtdamm zum Bahnhof in Höxter laut ein Lied gegen die „Judenrepublik“ an, worauf Albert Weißenstein in der Schule Klage darüber erhob. Im Herbst dieses Jahres brachte dann wohl eher kindlicher Nachahmungstrieb einen Elfjährigen dazu, gegenüber dem Wohnhaus der Familie Weißenstein am Haarmannplatz Hakenkreuze an die Wand zu schmieren.

Cäcilie Weißenstein
Cäcilie Weißenstein

Bis zur Weltwirtschaftskrise hatte das Bankhaus eine wichtige Position für das Finanzwesen in Holzminden, die es aber bis 1933 einbüßte. Im Mai 1933 zog Albert Weißenstein mit seiner Frau Cäcilie nach Berlin, und zum 27.3.1934 erlosch das Bankhaus in Holzminden offiziell. Während Albert noch im selben Jahr in Berlin starb, wurde seine Frau am 14.12.1942 von dort nach Auschwitz deportiert und vermutlich gleich nach der Ankunft ermordet.

Der Pass Erich Weißensteins
Der Pass Erich Weißensteins

Dagegen konnten die seit längerem in Hildesheim bzw. Leipzig lebenden Söhne Erich (1906–1983) und Heinz (1912–1996) diesem Schicksal entkommen. Sie emigrierten im Herbst 1938 aus Deutschland und gelangten schließlich auf Umwegen in die USA, wo Heinz H. Weißenstein später zu einem bekannten Fotografen berühmter Orchester wurde. 1979 besuchte er Holzminden auf Einladung der Stadt, und zwei Jahre nach seinem Tod kam seine Frau 1998 nochmals mit einem der Söhne nach Holzminden und Höxter, um den Spuren der Familie nachzugehen.

Fritz Ostkämper, 14.10.2019
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de