Jüdische Bürger in Höxter

Der Bauschullehrer Julius Paradies und seine Familie

Die Vorfahren der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für rund 20 Jahre in Höxter lebenden Familie Paradies stammten aus dem damaligen Ungarn. Nicht bekannt ist, ob sie verwandt waren mit den bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im lippischen Raum (Horn, Lage, dann auch Oerlinghausen und Bünde) verzeichneten Trägern des Namens Paradies, die dort als Kaufleute, später auch als Zigarettenfabrikanten lebten. Ein Hinweis auf solch eine alte Verwandtschaft könnte jedoch die spätere Heirat zwischen den beiden Familien und die Aufnahme von Kindern der Oerlinghauser Familie in Höxter sein.

Der im damals österreichisch-ungarischen Waag-Neustadt (Vágújhely, heute Nové Mesto nad Váhom in der Slowakei) geborene Julius Paradies (1837–1895) zog um 1870 nach Höxter, um hier an der 1864 gegründeten Baugewerkschule zu unterrichten. Er hatte in Wien sein Studium abgeschlossen und war dann zunächst Lehrer an der bereits seit 40 Jahren bestehenden Baugewerkschule in Holzminden, bevor er dann um 1870 nach Höxter wechselte. Über seine Lehrtätigkeit an der damals in der Papenstraße in Höxter gelegenen Baugewerkschule gibt es bisher keine Informationen. Bereits zuvor hatte er die in Oerlinghausen geborenen Bertha, geb. Paradies (1849–1877) geheiratet, die aus der bereits im 18. Jahrhundert in Lage (Lippe) ansässigen Familie Paradies stammte. Genaues über die alten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Familien Paradies ist bisher nicht bekannt.

Der heute kaum noch lesbare Grabstein von Julius Paradies’ erster Frau Bertha Paradies
Der heute kaum noch lesbare Grabstein von Julius Paradies’ erster Frau Bertha Paradies
Anzeige der Heirat von Julius Paradies mit seiner zweiten Frau Emma Hirsch, StDZ 7.10.1884
Anzeige der Heirat von Julius Paradies mit seiner zweiten Frau Emma Hirsch, StDZ 7.10.1884

In Höxter wurde 1877 der einzige Sohn Theophil David Paradies (1877–1904) geboren. Die Mutter Bertha starb jedoch schon vier Wochen nach seiner Geburt, so dass die als Haushälterin angestellte Emma Hirsch (1855–1941) aus Nörten den Sohn aufzog, bis Julius Paradies sie 1884 heiratete. Der Vater Julius Paradies übernahm selbst die schulische und religiöse Erziehung seines Sohns, und so beschwerte sich die Höxteraner jüdische Gemeinde 1885 beim Bürgermeister, dass Julius Paradies seinen Sohn selbst unterrichtete, statt ihn in die jüdische Schule zu schicken.

Aus einem Brief von Rudolf Alexander Paradies vom 19.11.1991
Aus einem Brief von Rudolf Alexander Paradies vom 19.11.1991

Die Familie nahm in diesen Jahren auch nacheinander drei Neffen der ersten Frau Bertha im Haus auf, die in Höxter das KWG besuchten, von 1876 bis 1878 die Neffen Karl Koppel und Alexander Paradies, Söhne von Berthas Bruder Jacob, der in Oerlinghausen ein Kleidungsgeschäft betrieb, und dann von 1886 bis 1888 Sieghard Samson Paradies, einen Sohn des Zigarrenfabrikanten Heinemann Paradies in Oerlinghausen, ebenfalls ein Bruder von Bertha Paradies. Wie Rudolf Alexander, ein Sohn des genannten Karl Paradies, 1991 aus den Erinnerungen seines Vaters berichtet, war die Erziehung in Höxter streng und gesundheitsbewusst.

Theophil Paradies 1888 in der Quarta und 1891 in der Untersekunda am KWG
Theophil Paradies 1888 in der Quarta und 1891 in der Untersekunda am KWG
Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main  1898–1899, S. 18
Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main 1898–1899, S. 18
Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main 1900-1901, S. 69
Jahresbericht des Physikalischen Vereins zu Frankfurt am Main 1900-1901, S. 69

Auch Julius’ Sohn Theophil Paradies besuchte ab 1888 das KWG und er ging 1895 mit dem Abitur ab, um in Göttingen Chemie zu studieren, wenige Wochen nachdem sein Vater gestorben und wie seine erste Frau Bertha auf dem jüdischen Friedhof in Höxter begraben worden war. Theophil Paradies schloss sein Studium in Göttingen mit Erfolg ab und konnte 1901 mit seiner Dissertation „Zur Kenntnis des Tetrazols“ zum Doktor promovieren. Bereits 1899 hatte ihn Max Ehrlich, der Entdecker des Salvarsan, eines Medikaments zur Behandlung der Syphilis, in sein Team aufgenommen, und so arbeitete Theophil Paradies in der Folgezeit vor allem am Senkenberg-Institut des physikalischen Vereins zu Frankfurt. Bei seiner Arbeit mit infektiösem Material im Labor zog er sich eine Infektion zu, an der er am 7.7.1904 starb.

Die Grabsteine für Theophil Paradies und seine Stiefmutter Emma, geb. Hirsch auf dem jüdischen Friedhof am Stadtfriedhof in Göttingen
Die Grabsteine für Theophil Paradies und seine Stiefmutter Emma, geb. Hirsch auf dem jüdischen Friedhof am Stadtfriedhof in Göttingen

Seine Stiefmutter Emma Paradies, geb. Hirsch überlebte ihn. Sie war 1895 nach dem Tod ihres Mannes ebenfalls nach Göttingen gezogen, wo sie (zeitweise mit ihrer Schwester Helene) unter verschiedenen Adresse wohnte, bis sie Anfang Mai 1941 in das „Judenhaus“ in der Weender Landstraße 2 ziehen musste. Dort starb sie drei Wochen später am 25.5.1941 und wurde auf dem jüdischen Friedhof am Stadtfriedhof in Göttingen begraben.

Drei zeitweise in Höxter wohnende Neffen von Bertha Paradies

Jeweils für wenige Jahre nahm die Familie des Baugewerkschullehrers Julius Paradies drei Neffen seiner ersten Frau Bertha Paradies in Höxter in ihrem Haus auf, als diese hier Schüler des Gymnasiums waren. Ihr Schicksal kann hier nur kurz skizziert werden.

Bertha Bruder Jacob Paradies (1830–1908) war in Oerlinghausen Inhaber eines bereits seit 1824 von der Familie betriebenen Bekleidungsgeschäfts. Er hatte mit seiner aus Salzkotten stammenden Frau Antonie Schöneberg (1843–1920) zwei Söhne, die beide von 1876 bis 1878 das KWG in Höxter besuchten und in dieser Zeit bei der Höxteraner Familie Paradies wohnten.

Das Geschäft von Alexander Paradies im Berliner Adressbuch von 1909
Das Geschäft von Alexander Paradies im Berliner Adressbuch von 1909

Über den jüngeren Sohn Alexander (1866–1912) ist nur bekannt, dass er seinen Militärdienst in Hannover ableistete und später Inhaber des wohl von der Familie seiner Mutter übernommenen Geschäfts M. Schöneberg für Spitzen, Posamenterie usw. in Berlin war.

Die Geschwister Alexander, Johanna, Karl und Samuel Paradies etwa Anfang des 20. Jahrhunderts
Die Geschwister Alexander, Johanna, Karl und Samuel Paradies etwa Anfang des 20. Jahrhunderts

Sein älterer Bruder Koppel Karl (1864–1950) wechselte 1878 vom Höxteraner Gymnasium für ein gutes Jahr auf das Realgymnasium in Bielefeld und ging dann in das elterliche Geschäft in Oerlinghausen über, das er später übernahm und in den folgenden Jahrzehnten leitete. Mit seiner aus Detmold stammenden Frau Bertha Erda (1879–1952) hatte er den Sohn Rudolf Alexander (* 1912), der in Chemnitz eine Ingenieursausbildung absolvierte und 1937 nach Manila (Philippinen) ins Exil ging, wo ein Verwandter lebte (s.u.). 1935 musste sein Vater das Geschäft in Oerlinghausen aufgeben. Das Ehepaar zog zunächst nach Bielefeld und floh dann Anfang 1939 wie der Sohn Rudolf auf die Philippinen, von wo die drei später in die USA gelangten. Dort starb Karl Paradies 1950 in Oakland, seine Frau Bertha zwei Jahre später.

Noch ein dritter Neffe von Julius Paradies’ Frau Bertha lebte für zwei Jahre bei der Familie in Höxter. Dieser Sieghard später Richard Samson Paradies (1874–1937) war ein Sohn von Berthas Bruder Heinemann Paradies (1838–1892), Inhaber einer Zigarrenfabrik, und seiner in Hohenhausen geborenen Frau Elise Steinberg (1848–1882). Sieghard kam 1886 auf das KWG in Höxter und wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Bertha. Von 1888 bis 1889 war er dann Schüler am Realgymnasium in Bielefeld und leistete später seinen Militärdienst ab. 1897 wanderte er nach Santa Fé (New Mexiko) in die USA aus. Dort meldete er sich als Freiwilliger im spanisch-amerikanischen Krieg und gelangte 1898 bei der Annexion der Phlippinen durch die USA auf die Insel Mindanao, wo er ins Zivilleben zurückkehrte. 1906 heiratete er die auf der phlippinischen Insel Cebu geborene Emilia Fortich (1883–1955) und lebte mit ihr (jetzt als Richard Paradies) auf Cebu und hatte mit ihr zehn Kinder. Er starb im März 1937 in Manila, unmittelbar vor der Ankunft seines Neffen Rudolf Alexander aus Deutschland, dem er vermutlich die Einwanderungspapiere verschafft hatte.

Fritz Ostkämper, 4.6.2016
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de