Jüdische Bürger in Höxter

Die Pogromnacht des 9./10. November 1938 in Höxter

Die folgende Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf den Ablauf der antisemitischen Ausschreitungen in Höxter in der sog. „Kristallnacht“, die Folgen für die jüdischen Bürger der Stadt und die Deportation der jüdischen Männer in das Konzentrationslager Buchenwald. Für die historischen Hintergründe und Zusammenhänge wird auf entsprechende Untersuchungen verwiesen.0

Das Attentat des polnischen Juden Herschel Gryszpan auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath am 7. Nov. 1938 war auch für Nationalsozialisten in Höxter ein willkommener Anlass, ihre Maßnahmen gegen die Juden der Stadt zu verschärfen. Während die Höxtersche Zeitung noch relativ sachlich berichtete, schäumte das NS-Volksblatt unter der Überschrift „Jüdischer Mordanschlag auf deutschen Diplomaten“ vom „Treiben des internationalen jüdischen Verbrechergesindels“ und von „jener jüdischen Weltliga und Emigrantenclique“, der jedes Mittel „in ihrem verbrecherischen Kampf gegen das deutsche Volk“ recht sei, und forderte drohend, dass der Mord dieses Einzelnen „für die in Deutschland lebenden Juden aller Nationalitäten nicht ohne Folgen bleiben“ dürfe.1

Anordnung des Höxteraner Landrats Reschke an die Stadt- und Ortsbürgermeister
Anordnung des Höxteraner Landrats Reschke an die Stadt- und Ortsbürgermeister

Spätabends am 9.11.1938 um 23.55 Uhr erging ein Fernschreiben der Gestapo Berlin an alle Staatspolizeileitstellen, mit dem zum Pogrom aufgerufen wurde und das fernmündlich auch an den Ortsgruppenleiter der NSDAP in Höxter weitergegeben wurde. „Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören, jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, daß Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden könne. […] Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20- bis 30 Tausend Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden.“2 Gemäß den ›näheren Anordnungen‹ Reinhard Heydrichs in einem Telegramm von 1.20 Uhr3 ergänzte Landrat Reschke in seinem am Morgen um 6 Uhr folgenden Schreiben an die Stadt- und Amtsbürgermeister: „Mit der Unterbringung sämtlicher festgenommener Juden in ein Konzentrationslager ist sofort zu beginnen.“4

Der Zeitpunkt des Pogroms war gezielt gewählt. Nach der traditionellen Gedenkfeier für die „Gefallenen an der Feldhernhalle“ im Central-Theater an der Stummrigestraße hatten sich die Männer von Partei, SA und SS in Höxter zu einem fröhlichen Beisammensein im „Berliner Hof“ getroffen, eine andere Gruppe im „Strullenkrug“. Als die zentralen Anweisungen in Höxter eintrafen, waren viele der Männer mehr oder weniger betrunken, durch Hetzreden und antisemitische Lieder enthemmt und so umso bereiter, es den Juden endlich einmal ›heimzuzahlen‹. Bald nach Mitternacht begann auch in Höxter die „Kristallnacht“, die sich bis in die Morgenstunden hinzog.5

Zerstörung jüdischer Geschäfte und Häuser

Zusammenfassender Schadensbericht über die Zerstörungen an jüdischen Geschäften und Häusern in Höxter im (StA Höxter, ohne Datum)
Zusammenfassender Schadensbericht über die Zerstörungen an jüdischen Geschäften und Häusern in Höxter im (StA Höxter, ohne Datum)

„Im Rathaus wurden die Parteigenossen und SA-Männer in kleine Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhielt den Befehl zur Festnahme bestimmter Juden und zur Beschädigung ihrer Häuser“, wie es in der Anklageschrift gegen sieben Beschuldigte vor dem Amtsgericht Paderborn vom 5.3.1948 heißt.6 Anschließend stürmten die eingeteilten Trupps die noch in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte und Wohnhäuser Ahron (Stummrigestr. 4), Löwenstein (Westerbachstr. 5), Netheim (Westerbachstr. 16), Kaufmann-Blankenberg (Marktstr. 27), ebenso das Haus und die Praxis von Dr. Frankenberg (Corveyer Allee 5) und das Haus des Viehhändlers Dillenberg (Stummrigestr 47).

Ähnlich verlief die Pogromnacht auch in den Dörfern. In Fürstenau wurde das restliche Inventar der schon im August stark beschädigten Synagoge zerstört und verbrannt. Bei Moses Bachmann wurde ein (später zurückgegenes) Sparbuch mitgenommen. Die Geschäfte von Paula Netheim und Ida Netheim-Marchand in Ottbergen wurden gestürmt und ihre Wohnungen verwüstet, ebenso das Geschäft der Geschwister Schlesinger in Albaxen usw.

Überall gab es erhebliche Zerstörungen. Bei Dillenberg waren es sieben Fenster, bei Ahron ein Schaufenster und die Haustürscheibe, bei Kaufmann zwei Schaufenster, dazu Vitrinen und die Scheiben in der Haustür. Die größten Schäden wurden im Kaufhaus Löwenstein angerichtet, wo neben vier Schaufenstern zahlreiche Scheiben in der Wohnung und sogar die Eingangstür der Wohnung im Obergeschoss zerstört oder beschädigt wurden. Bei Dr. Frankenberg zerstörten die SA-Horden die Praxis und machten selbst vor wertvollen Instrumenten und Apparaturen nicht Halt, die zerstört und durch die zerschlagenen Fenster auf die Straße geworfen wurden. Sein Auto eignete sich ein örtlicher Parteiführer an, der es aber am nächsten Tag auf der Straße nach Godelheim gegen einen Baum setzte. Bei Löwenstein wurden vier Hemden gestohlen. Mehrfach wurden auch Geschäftsbücher und Geldsummen beschlagnahmt, die aber später zurückgegeben wurden.

Zuletzt richtete sich die Zerstörungswut auch gegen die Synagoge in der Nagelschmiedstraße, in die die SA-Trupps gegen Morgen durch die zerschlagenen Fenster eindrangen, weil die Bewohner der anliegenden Wohnung nicht schnell genug die Türen öffneten. Die gesamte Einrichtung wurde verwüstet, die Bänke durch die Fenster auf die Straße geworfen und das Geländer der Frauenempore ebenso zerschlagen wie die Einrichtung des ehemaligen Schulraums. Nur durch den Hinweis auf die enge Bebauung und die Gefährdung der anliegenden Fachwerkhäuser konnten Nachbarn verhindern, dass die Synagoge in Brand gesetzt wurde. Die Thorarollen und andere in der Synagoge aufbewahrte Schriften wurden dagegen auf dem Marktplatz verbrannt. Wertvolle Kultgegenstände wurden beschlagnahmt und verschwanden. Dagegen blieb der jüdische Friedhof bis auf eventuelle kleinere Beschädigungen in der Pogromnacht unzerstört.

Körperliche Übergriffe und Misshandlungen

Zeitzeugen über Misshandlungen in der Pogromnacht

Schlimmer jedoch als alle materiellen Schäden waren die Misshandlungen und Demütigungen, die die aus dem Schlaf gerissenen Juden zu erleiden hatten. Überall wurden sie aus ihren Häusern auf die Straßen getrieben und waren der Willkür und dem Spott der betrunkenen und grölenden SA-Männer schutzlos ausgesetzt, die sie zum Rathaus trieben, um sie dort in die Arrestzellen im Keller zu sperren.

Die Familie Löwenstein musste in Nachtgewändern mit bloßen Füßen durch die Scherben der zerstörten Fensterscheiben laufen. Auch ein Anruf Ernst Löwensteins bei der Polizei war vergeblich, die Polizei durfte nicht eingreifen. Die Familie Dillenberg wurde mit Knüppeln aus dem Haus geprügelt. Der Arzt Dr. Frankenberg wurde am Rathaus die Treppe hinuntergetreten. Der gegen 2 Uhr aus dem Bett geholte Gustav Uhlmann durfte sich nur notdürftig ankleiden und wurde auf dem Weg zum Rathaus mit einem harten Gegenstand misshandelt, so dass er sämtliche Vorderzähne einbüßte und Kopfverletzungen davontrug. Am Rathaus erhielt er einen heftigen Fußtritt, so dass er die Treppe hinterfiel und sich am Schienbein verletzte. Der Fürstenauer Siegfried Bachmann bekam auf dem Transport nach Höxter einen Dolchstich ins Gesäß.

Selbst auf die Frauen und Kinder, die den Männern zum Rathaus folgten, nahmen die rohen SA- und SS-Männer keine Rücksicht. Der Leitende Polizeibeamte B.K. sagte 1948 im Prozess aus, „daß fast sämtliche Juden, Männer, Frauen und einige Kinder, die in der Stadt Höxter wohnten, sich im Keller befanden. […] Es war ein wüstes Durcheinander, die jüdischen Frauen weinten und die Kinder schrieen. Da es schon kalt war, habe ich die jüdischen Frauen und Kinder aus dem Keller geholt und im Erdgeschoß in ein wärmeres Zimmer gebracht.“7

Ebenso wie die in der Stadt wohnenden Juden wurden auch die männlichen Juden aus Fürstenau, Ovenhausen, Albaxen und Vörden8 zum Rathaus in Höxter transportiert, wobei der Albaxer David Schlesinger zu Tode kam. Nach der Aussage der beiden SA-Leute, die ihn mit einem offenen Kübelwagen nach Höxter holen sollten, sei er auf halber Strecke aus dem Wagen gesprungen und an den dabei erlitteten Verletzungen gestorben. Zutreffender ist aber wohl die noch mehr als 60 Jahre später in Höxter verbreitete Version, wonach Schlesinger von den SA-Leuten aus dem Wagen geworfen oder von der Motorhaube des Kübelwagens heruntergeschleudert wurde. Dafür spricht auch die Aussage des Polizeimeisters P. 1948 beim Prozess: „In der Stadt ging das Gerücht, daß die Mannschaft, die den Schlesinger aus Albaxen geholt hat, tatsächlich unterwegs den Schlesinger herabgeworfen hat, so daß er gegen einen Baum geschleudert wurde und an den Verletzungen gestorben ist. Das Gerücht schien mir nicht unbegründet zu sein.“9 Bewusstlos und blutüberströmt wurde Schlesinger in Höxter in den Rathauskeller gebracht, wo der verhaftete jüdische Arzt Dr. Frankenberg einen Schädelbasisbruch feststellte, an dem Schlesinger am 10.11.1938 starb.

Inhaftierung im Konzentrationslager Buchenwald

Während die jüdischen Frauen und Kinder nach Hause geschickt wurden, blieben die Männer im Keller des Rathauses, teils wohl auch im Stadtgefängnis an der Neuen Straße, eingesperrt, bis ein erneuter Fernspruch der Staatspolizei aus Bielefeld ihren Abtransport in das KZ Buchenwald anordnete: „Die festgenommenen Juden sind am 11.11.38 um 18 Uhr in Bielefeld im Turnsaal der Falk-Mittelschule (Falkstraße) einzuliefern. Es ist dafür Sorge zu tragen, daß der Transport ungestört durchgeführt wird und das genügend Begleitbeamten mitgesandt werden, gegebenenfalls ist auf SS und SA zurückzugreifen. Einige Beamte müssen sich darauf einstellen, daß sie evtl. den Transport bis Buchenwald bei Weimar begleiten müssen, sie haben sich entsprechend darauf einzurichten. Voraussichtliche Abwesenheit der Beamten 3 Tage. Die festgenommenen Juden sind mit Verpflegung für 2 Tage zu versehen.“10

Am 11.11.1938 wurden die 25 jüdischen Männer aus Höxter, Fürstenau11, Ovenhausen und Vörden zum Bahnhof gebracht, wo sie „wie ein Stück Vieh auf Lastkraftwagen verladen wurden“12, die sie zum Sammelplatz nach Bielefeld abtransportierten. Mit der Reichsbahn brachte man sie mit ihren anderen Leidensgenossen aus Ostwestfalen zum Hauptbahnhof in Weimar. In aller Öffentlichkeit wurden sie dort von SS-Leuten und Hilfspolizisten brutal zum Lager getrieben, so dass sie bereits mit Platzwunden, Quetschungen und Knochenbrüchen den Appellplatz erreichten. Dort wurden sie registriert und nach dem Scheren der Haare getrennt von den übrigen Häftlingen in einem gesonderten Judenlager zusammengepfercht.13

Die kahl geschorenen jüdischen Männer beim Appell im KZ Buchenwald
Die kahl geschorenen jüdischen Männer beim Appell im KZ Buchenwald

Erhalten sind die „Geldkarten“ der Häftlinge aus dem Konzentrationslager Buchenwald, auf denen die inhaftierten Juden sich von ihren Familien kleinere Geldsummen zuschicken lassen konnten und auf denen sie den Erhalt und die Verwaltung der kleinen Beträge mit ihrer Unterschrift bestätigten.

Über die Leiden der Juden aus Höxter in Buchenwald ist wenig bekannt. Gustav Uhlmann, Überlebender der späteren Deportation nach Riga, schrieb 1945 in einem Brief an Otto (Jacob) Pins nur lapidar: „Das wir schon alle in K.Z. Buchenwald waren weißt du sicher.“14 Für ihn waren die Wochen in Buchenwald nach den grausamen Erlebnissen in Riga kaum noch erwähnenswert. Eine Ahnung vermittelt aber die Tatsache, dass der Höxteraner Richard Dillenberg sich drei Tage nach der Ankunft in Buchenwald die Pulsadern aufschnitt und nur überlebte, weil er rechtzeitig gefunden wurde.15

Auch der am Tag seiner Rückkehr nach Höxter geschriebene Brief von Dr. Leo Pins an den Sohn Otto (Jacob) lässt seine schlimmen Erlebnisse nur ahnen: „Ich bin gestern nach 3 wöchentlicher Abwesenheit G. s. D. nach Hause zurückgekehrt. Es ist mir gut ergangen und ich bin gesund. Mutter fand ich verhältnismässig wohl aussehend vor. Natürlich haben die schweren Zeiten und die Sorge um mich, die übrigens unberechtigt war, sie etwas mitgenommen. Aber ich hoffe, sie wird sich bald wieder erholen.“ Und weiter: „Du willst wissen, wie es in der letzten Zeit in Höxter war. Im Moment kann ich darüber nicht berichten.“ Etwas deutlicher wird die Mutter Pins: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie froh u. glücklich ich bin, Vater wieder hier zu haben. – Wie sehr ich gejammert habe – glaubst Du nicht. Onkel Rich.16 ist mit Vater zusammen gewesen u. zurückgekommen.“17

Dr. Richard Frankenberg, seine Frau Änne, Ida Pins und ihr Mann Dr. Leo Pins im Mai/Juni 1939
Dr. Richard Frankenberg, seine Frau Änne, Ida Pins und ihr Mann Dr. Leo Pins im Mai/Juni 1939

Höchstens zwischen den Zeilen spürt man, wie fürchterlich diese drei Wochen für die Eltern Pins waren, denn die Wahrheit durften sie nicht schreiben und wollten auch ihren Sohn in Palästina nicht beunruhigen. Jacob Pins sagte später einmal: „Niemand wagte darüber zu reden oder gar zu schreiben. Alle Auslandspost wurde streng zensiert. Aber ein Foto aus dem Mai oder Juni 1939 spricht Bände. Mein Vater – und auch Onkel Richard – ist darauf völlig verändert. Der Anzug ist ihm viel zu weit und schlottert ihm am Leibe, das Gesicht ist schrecklich eingefallen.“18

Entlassung aus Buchenwald und Rückkehr nach Höxter

Zufolge einer Rundverfügung sollten als erste solche Juden aus der „Schutzhaft“ entlassen werden, die für „Arisierungsverhandlungen“, also den erzwungenen Verkauf ihrer Häuser und Geschäfte, benötigt wurden, ebenso diejenigen, die bereits über Auswanderungspapiere verfügten, und dazu die ehemaligen Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs. Auch ältere oder kranke Häftlinge sollten zügig entlassen werden.

Zwar scheinen auch bei den Juden aus Höxter diese Regelungen grob beachtet worden zu sein, wurden jedoch oft eher willkürlich ausgelegt. Als erste wurden die Kriegsversehrten Hermann Dillenberg und Gustav Uhlmann am 27.11.1938 entlassen. Bereits kurz vorher kamen Richard Frankenberg, Leo Pins, Paul Netheim und Siegfried Simson auf „Transport“ von Buchenwald fort. Von den ersteren beiden ist jedoch bekannt, dass sie erst am 2. Dezember nach Höxter zurückkehrten.19 Auch bei anderen dürfte die Rückkehr nach Höxter nicht immer mit der Entlassdatum aus Buchenwald zusammenfallen. Erst im Januar 1939 wurden die letzten Höxteraner aus Buchenwald entlassen, als letzter am 27.1.1939 der Ovenhäuser Max Stamm.

Buchenwald 1938 568

Die Pogrome des 9./10. Nov. 1938 markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur ihrer systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete. Als die Höxteraner Juden aus Buchenwald zurückkehrten, waren die meisten Geschäfte geschlossen. Wegen der „feindlichen Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich“ wurde den deutschen Juden eine „Kontribution“ von einer Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich auferlegt, und dazu mussten sie die Kosten für die „Wiederherstellung des Straßenbildes bei Jüdischen Gewerbebetrieben“ übernehmen. Die ihnen zustehenden Versicherungansprüche wurden zugunsten des Reiches beschlagnahmt.

Zahlreiche weitere Verordnungen folgten: der Ausschluss der jüdischen Kinder aus dem öffentlichen Schulwesen, das Verbot zum Besuch von Theatern, Kinos, Museen, Schwimmbädern usw., vor allem aber die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12.11.1938, mit der die Juden ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren, zum Verkauf ihrer Häuser und Geschäfte gezwungen waren usw. Einige von ihnen konnten noch vor Beginn des Krieges ins Ausland flüchten, die übrigen wurden 1941 und 1942 in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert und im Holocaust ermordet.

Die Reaktion der Höxteraner Bevölkerung auf das Pogrom

Wenig Konkretes ist darüber bekannt, wie die Höxteraner auf das Pogrom reagierten. Während die Höxtersche Zeitung in einer kurzen Meldung relativ sachlich berichtete, triumphierte das NS-Voksblatt und mit ihm die Nazis in Höxter: „Eine erregte Volksmenge nahm […] Stellung gegen das jüdische Verbrechertum. Sämtliche Juden wurden in Schutzhaft genommen, ihre Wohnungen durchsucht und deren Geschäfte geschlossen. Die empörte Volksmenge zog dann auch zu dem Mittelpunkt der jüdischen Zusammenkünfte, der Synagoge, deren Inneres durchsucht und teilweise zerstört wurde.“ Die Juden seien selbst dafür verantwortlich, „daß die im Volke aufgespeicherte Wut gegen die Rassegenossen […] zur Explosion geriet!“20

Nicht alle Höxteraner teilten diese Meinung, und – wenn auch nur vereinzelt – gab es wohl Proteste, die aber gleich erstickt wurden, wie ein Beispiel zeigt. Als die SA-Leute den Kaufmann Ernst Löwenstein im Pyjama auf die Straße trieben, hätten die Anlieger der Straße geschimpft: „So’ne Unverschämtheit! So’ne Gemeinheit!“, seien aber von den Nazi-Schlägern gleich bedroht worden: „Wenn ihr nicht gleich die Schnauze haltet, werdet ihr mit eingesperrt!“ Und der Zeitzeuge fügte hinzu: „Die kleine Masse, die haben das gar nicht so stillschweigend hingenommen, die haben das überhaupt nicht stillschweigend hingenommen.“21

Bericht des Höxteraner Landrats, 18.11.1938
Bericht des Höxteraner Landrats, 18.11.1938

Auch sonst gab es wohl vereinzelt kritische Reaktionen, so etwa an der Synagoge, wo die Nachbarn die Nazi-Horden mit dem Hinweis auf die Bauweise des Gebäudes in Fachwerk am Anzünden hinderten, weil auch ihre eigenen Häuser sonst sicher ein Opfer der Flammen geworden wären. Wie aus dem Bericht des Landrats deutlich wird, zeigte die Bevölkerung ihr Empfinden wohl eher nur durch ein gewisses Murren wegen des brutalen Umgangs mit den „mehr oder weniger kläglich aussehenden Gestalten“: „die Sympathie der Bevölkerung [war] nicht bei dieser Aktion […]. Hier und da waren deutlich Anzeichen von Mitleid festzustellen. Die Bevölkerung war ernst und gedrückt.“22 Dasselbe bestätigte auch der Bericht des Regierungspräsidenten von Oeynhausen an den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring: „Über die von der Partei befohlene Aktion […] herrscht […] betretenes Schweigen. Selten äußert sich offene Meinung. Man schämt sich.“23

Offenere Kritik gab es in der Bevölkerung wegen der angerichteten Schäden und wegen der Übergriffe auf die Synagogen: „Völlig verurteilt worden ist die Zerstörung von Sachwerten […]. Sehr bedenklich ist die Beschädigung der Synagogen aufgenommen, da gerade die kath. Bevökerung […] in diesen Synagogen vielmehr religiöse Statten, wie Bollwerke des Judentums sah. Die Vermutung, daß die gleiche Aktion eines Tages auch die Kirchen treffen könne, ist verschiedentlich aufgetaucht. Ganz allgemein hat die Aktion gezeigt, daß der größte Teil der ländlichen Bevölkerung eine solche Aktion als mit dem deutschen Ansehen und der deutschen Würde nicht für vereinbar hält“.24 Zudem durchschauten die Menschen die Unglaubwürdigkeit der Zeitungsberichte: „Da […] die Bevölkerung in fast keinem Falle an der Aktion teilgenommen hat, wirkt die dauernde Behauptung der Presse, es handele sich um eine spontane Empörung des Volkes, geradezu lächerlich, zumal die Tatsache, dass die Aktion von oben organisiert war, infolge der im allgemeinen einheitlichen Durchführung der Aktion nicht zu verkennen war.“25

Offenen Widerstand gab es jedoch in der Pogromnacht und auch später in Höxter nicht. Wie überall in Deutschland dominierten auch hier die Täter und bereiteten ungehindert oder aktiv unterstützt von der Stadt und ihren Bürgern die weitere Ausgrenzung und Verfolgung der Höxteraner Juden und ihre schließliche Deportation und Ermordung vor. Dass aber manche Höxteraner die Ereignisse der Pogromnacht und ihre Folgen als Stich im Herzen bewahrten, zeigen z. B. die von ihrer Tochter aufgezeichneten Erinnerungen der damals diensttuenden Telefonistin im Postamt gegenüber dem Rathaus.

Erinnerungen von Edith Corleis, geb. Arndt, aufgezeichnet von ihrer Tochter Gisela Corleis
Erinnerungen von Edith Corleis, geb. Arndt, aufgezeichnet von ihrer Tochter Gisela Corleis

Anmerkungen

[0] Die Darstellung stützt sich unter anderem auf die Vorarbeiten von Annegret Köring, Das Schicksal der jüdischen Gemeinde Höxter in der Zeit des Dritten Reiches. Staatsarbeit, 1976 (unveröffentlicht) – hier zitiert als: „Köring“ – und Ernst Würzburger, Höxter: Verdrängte Geschichte. Zur Geschichte des Nationalsozialismus einer ostwestfälischen Kreisstadt. Holzminden, 2014 – hier zitiert als: „Würzburger“. Zahlreiche Einzelinformationen gehen auf (zumeist mündliche) Aussagen von Zeitzeugen zurück.
[1] NS-Volksblatt, 8.11.1938
[2] Fernschreiben der Gestapo Berlin an alle Leitstellen der Staatspolizei vom 9.11.1938, 23.55 Uhr.
[3] „[…] so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen.“ Blitz-Fernschreiben vom 10.11.1938, 1.20 Uhr.
[4] Stadtarchiv Marienmünster, Amt Vörden, A 138.
[5] Vgl. Köring, S. 31f, Würzburger, S. 198f sowie Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Paderborn vom 5. März 1948 gegen sieben Höxteraner unter der Beschuldigung, „am 8./9. November 1938 in Höxter, Albaxen, Fürstenau und Vörden gemeinschaftlich aus politischen und rassistischen Gründen die jüdischen Einwohner verfolgt zu haben“ – im Folgenden zitiert als „Prozess Paderborn“.
[6] Prozess Paderborn.
[7] Prozess Paderborn.
[8] Weshalb auch die Vördener Juden zum Höxteraner Rathaus gebracht wurden, ist unbekannt.
[9] Prozess Paderborn.
[10] Fernschreiben der Staatspolizei Bielefeld, 10.11.1938 Stadtarchiv Marienmünster, Amt Vörden, A 138.
[11] Der zu diesem Zeitpunkt bei seinen Eltern in Herne weilende Max Pins aus Fürstenau wurde bis zum 29.12.1938 im KZ Sachsenhausen inhaftiert.
[12] Köring, S. 34.
[13] Vgl. 9.11.1938. Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe, S. 19.
[14] Gustav Uhlmann an Otto (Jacob) Pins, Oktober 1945.
[15] Arolsen Archives, Richard Dillenberg.
[16] Dr. Richard Frankenberg, Nennonkel von Jacob Pins.
[17] Brief der Eltern an Otto (Jacob) Pins vom 3.12.1938.
[18] Jacob Pins – Künstler, Sammler, Freund, S. 16.
[19] Brief der Eltern an Otto (Jacob) Pins vom 3.12.1938.
[20] NS-Volksblatt, 11.11.1938.
[21] Zeitzeuge Heinrich Alsweh, 4.8.1988.
[22] Bericht des Landrats an die Geheime Staatspolizei, 18.11.1938, StA DT, M1 I P Nr. 1106.
[23] StAD M1IP,1714.
[24] Bericht des Landrats an die Geheime Staatspolizei, 18.11.1938, StA DT, M1 I P Nr. 1106.
[25] Bericht der Staatspolizei Bielefeld an die Geheime Staatspolizei in Berlin, 26.11.1938.

Fritz Ostkämper, 18.11.2019
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de