Jüdische Bürger in Höxter

Gustav Uhlmann: „Ich kann es heute noch nicht begreifen, daß ich einer von den Geretteten bin“1

„Von Höxter soll ich wohl der einzige übergeblieben sein.“2 Das schrieb Gustav Uhlmann 1945 an Otto Pins, einen Bekannten aus seiner Zeit in Höxter, der sich rechtzeitig nach Palästina retten konnte. Gustav Uhlmann stammte aus einer jüdischen Familie, aus der sich zwei Brüder um 1810 in Höxter und dem nahe gelegenen Dorf Ovenhausen ansiedelten. Während der Höxteraner Zweig um die Mitte des 19. Jahrhunderts von hier verschwand, lebten die Nachkommen des anderen Zweigs bis zu ihrer Deportation in Ovenhausen. (Zur Familie Uhlmann siehe hier)

Das Haus der Familie Uhlmann, Ovenhausen Nr. 93
Das Haus der Familie Uhlmann, Ovenhausen Nr. 93

Gustav Uhlmanns Großvater Isaak verdiente das Einkommen der Familie als Lumpensammler, und sein Sohn Levy (1849-1927) kaufte dort 1885 ein Haus,3 in dem die Familie in den folgenden Jahrzehnten ein Kolonial- und Haushaltswarengeschäft betrieb. Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau hatte er mit seiner zweiten Frau Fanny geb. Löwendorf (1857-1938) außer einer jung gestorbenen Tochter vier Kinder, von denen die Tochter Grete (geb. 20. September 1897) und der Sohn Norbert (geb. 1. Juni 1890) mit seiner Familie im Holocaust ermordet wurden.4 Der Sohn Willy (20. September 1892 – 1. Januar 1965) entging dem Holocaust durch die Emigration in die USA im Jahr 1936, und der jüngere Sohn Gustav war einer drei Überlebenden der Juden aus Höxter.

Der ältere Sohn Norbert übernahm das elterliche Geschäft in Ovenhausen und führte es nach dem Tod des Vaters (1927) bis in die NS-Zeit weiter.5 Die Familie war im Dorf allgemein akzeptiert und bot in ihrem bescheidenen Krämerladen im Haus all die Dinge an, die die Dorfbewohner im Alltag brauchten: Lebensmittel, Haushaltswaren, Porzellan, Glühbirnen, Spielzeug und vieles andere. Dazu arbeitete er als Hausschlachter und schächtete Ziegen.

Der jüngere Sohn Gustav (geb. 27. März 1894) machte nach seiner achtjährigen Schulzeit eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten.6 Im Ersten Weltkrieg wurde er ebenso wie sein älterer Brüder Willy als Soldat eingezogen.7 Beide Brüder wurden im Krieg verwundet. Während Willys Verwundung leicht war, wurde Gustav und am 10. November 1916 als Gefreiter der 6. Kompanie des Infanterie-Regiments 55 schwer verwundet und kehrte als Kriegsbeschädigter mit dem Eisernen Kreuz zurück.

Nach dem Krieg arbeitete Gustav Uhlmann von 1925 bis zur Pogromnacht 1938 als Verkäufer im Kaufhaus der jüdischen Familie Löwenstein in Höxter, wo er wohl so etwas wie ein Erster Verkäufer war.8 Am 29. August 1925 heiratete er die aus Nenterhausen stammende Johanna Katz (geb. 17. Dezember 1895) und zog mit ihr für zwei Jahre in eine schräg gegenüber dem Kaufhaus Löwenstein gelegene Wohnung Westerbachstraße 12. Dort wurde am 19. Dezember 1927 der Sohn Walter geboren. Nach einem zwischenzeitlichen Umzug in eine andere Wohnung9 zog die Familie 1932 in ein Haus in der nahen Wegetalstraße 6, wo die kleine Familie bis 1941 lebte.

Die Familie Gustav Uhlmann mit Frau Johanna und Sohn Walter um 1930 in Nentershausen © Susan Wertheim Farkas
Die Familie Gustav Uhlmann mit Frau Johanna und Sohn Walter um 1930 in Nentershausen © Susan Wertheim Farkas

Das Kaufhaus Löwenstein war in Höxter allgemein beliebt und bot in seinen Räumen ein reichhaltiges Warensortiment an, das sich auch ärmere Leute wegen der günstigen Preise leisten konnten. Zudem war die Familie auch wegen ihres sozialen Engagements angesehen. Die Angestellten erhielten bei ihrer Heirat eine Aussteuer; Wöchnerinnen wurden eine Woche lang mit Nahrungsmitteln versorgt; Kinder aus armen Familien bekamen ein kostenloses Mittagessen und bei der Konfirmation oder Kommunion eine kostenlose Einkleidung usw.10

Fast 15 Jahre arbeitete Gustav Uhlmann in dem Kaufhaus. Dazu versah er in der Gemeinde offenbar die Aufgabe eines Wärters des jüdischen Friedhofs an der Gartenstraße. Denn, wie aus einem Aktenblatt von 1947 hervorgeht, verfügte er über einen Schlüssel zum Friedhof, den er bei seinem „Fortgang“[!] vor der Deportation an eine Höxteranerin übergab, die das hinter dem Friedhof gelegene Grundstück bewirtschaftete.11

Mit der ›Machtübernahme‹ der Nazis änderte sich die Situation grundlegend. Wie in anderen Städten wurde auch das Kaufhaus Löwenstein am 1. April 1933 mit einem Boykott überzogen, und Ernst Löwenstein wurde kurz danach verhaftet, weil er die „KPD durch höhere Geldbeträge unterstützt“ habe. In Wirklichkeit handelte es sich dabei nur „um kleine Beträge von höchstens -,30 bis -,40 an die KPD“ sowie um den gelegentlichen Kauf der regionalen kommunistischen Zeitung Weserwacht. Dank einer ärztlichen Bescheinigung seines schlechten Gesundheitszustand und einer eidesstattlichen Erklärung fast aller („arischer“!) Angestellter wurde Löwenstein jedoch nach fünf Tagen wieder aus der Haft entlassen.12

NS-Volksblatt, 10.8.1935
NS-Volksblatt, 10.8.1935

Die Lage der Juden und damit auch des Kaufhauses Löwenstein wurde zunehmend schwieriger, und nur noch ganz vereinzelt erschienen 1933 und 1934 noch Anzeigen des Geschäfts in den Zeitungen. Die Hetze nahm immer weiter zu, auch mit Artikel im NS-Volksblatt.13 Wiederholt wurden Kunden, die das Geschäft betraten, fotografiert und ihr Bild im Stürmer-Kasten14 ausgehängt. Wegen der günstigen Preise fand das Kaufhaus Löwenstein aber noch weiterhin seine Kunden, denn vor allem die ärmere Bevölkerung wollte und konnte auf das günstige Warenangebot nicht verzichten oder schickte zumindest die Kinder zum Einkauf.

Gustav Uhlmann arbeitete weiterhin bei den Löwensteins. Ebenso führte sein Bruder Norbert in Ovenhausen das vom Vater übernommene Geschäft der Familie in Ovenhausen weiter, obwohl auch dort die Einnahmen zurückgingen und die Ausgrenzungen zunahmen.15 Der Bruder Willy, der als Geschäftsführer in einem Kaufhauses in Bielefeld angestellt war, erkannte dagegen rechtzeitig die Zeichen der Zeit und emigrierte Ende 1936 mit seiner Frau in die USA.

Die Pogromnacht des 9./10. November 1938 zerschlug endgültig alle Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage der Juden in Deutschland.16 In einem Prozess gegen sieben Höxteraner unter der Beschuldigung, „in Höxter, Albaxen, Fürstenau und Vörden gemeinschaftlich aus politischen und rassistischen Gründen die jüdischen Einwohner verfolgt zu haben“ gab Gustav Uhlmann 1948 bei dem Gericht in Paderborn zu Protokoll:

„Die Vorfälle in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, jedenfalls war es in diesen Tagen, sind mir in ihrer Brutalität unvergeßlich. Etwa um 2 Uhr in der Nacht wurde ich in meiner Wohnung von einer Horde uniformierter Leute aus dem Schlaf herausgeholt und gezwungen, nachdem ich mich notdürftig ankleiden konnte, mit diesen zu gehen. Wir wurden zum Rathaus geführt, wo mir der SA-Scharführer K. M. einen heftigen Fußtritt in das Gesäß versetzte, so daß ich die Treppe herunterfiel und mich am Schienbein verletzte. Wir wurden dann in den Arrestzellen des Rathauses eingesperrt. Etwa eine Stunde später wurde mit schwersten Verletzungen und bewußtlos mein Glaubensgenosse David Schlesinger aus Albaxen hereingetragen. Er wurde sogar an seinen Gliedern hereingeschleift, so daß man keine Rücksicht darauf nahm, daß der Kopf dauernd auf der Erde aufschlug. Er ist noch dieselbe Nacht gestorben. […] Ich will auch erwähnen, daß mich M. auf dem Wege zum Rathaus zum städtischen Gefängnis mit einem harten Gegenstand derart mißhandelt hat, daß ich meine sämtlichen Vorderzähne einbüßte und Kopfverletzungen davontrug […]. Ich wurde dann über das städtische Gefängnis in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, wo ich allerdings am 28. November 1938 als Kriegsbeschädigter entlassen wurde“.17

In der Folgezeit nahm der Antisemitismus auch in Höxter immer weiter zu, wie Uhlmann 1945 in einem Brief an Otto Pins schrieb: „Daß wir 1938 schon alle im K.Z. Buchenwald waren, weißt du sicher. Da ging erst richtig in Höxter der Risches18 los.“19 Durch immer neue Verordnungen und Verbote wurden die Juden immer weiter ins Abseits gezwungen. Das Geschäft Löwenstein war wie alle anderen jüdischen Geschäft arisiert, und die Juden wurden bis zu ihrer Deportation in den folgenden drei Jahren in der Stadt und der Umgebung zur Zwangsarbeit eingesetzt. Gustav Uhlmann musste wie andere Höxteraner Juden in der Lederpappenfabrik in Godelheim arbeiten, bei einer Firma, die er aber später in einem Brief aber ausdrücklich lobte: „Der Arbeitsgeber auch die Leute waren sehr gut.“20

Während inzwischen Anfang Dezember 1938 Johanna Uhlmanns 78-jährige Mutter Bertha Katz mit in das Haus eingezogen war, musste der inzwischen elfjährige Sohn Walter das Elternhaus verlassen. Als Jude wurde er aus der öffentlichen Schule in Höxter verwiesen, war aber weiterhin verpflichtet, seine achtjährige Schulpflicht zu erfüllen. Deshalb schickten ihn seine Eltern bis zum Herbst 1941 auf die Israelitische Gartenbauschule in Hannover-Ahlem.

Wie viele andere Höxteraner Juden bereitete sich auch Gustav Uhlmann mit seiner Familie auf eine Auswanderung vor. Wie ein Zeitzeuge berichtet, machte Uhlmann Englischkurse und fuhr regelmäßig nach Berlin, „um an der Landwirtschaftsschule […] sich umschulen zu lassen, weil er doch auswandern wollte.“21 Vor allem hoffte die Familie auf eine Auswanderung in die USA, wo Gustavs Bruder Willy seit 1936 in New York lebte, der von dort aus auch die entsprechende Bürgschaften übernahm, um seinen Brüdern Norbert und Gustav mit ihren Familien das Affidavit zu verschaffen.

Karteikarte des Jewish Distribution Commitee mit der Verpflichtung Willy Uhlmanns zur Unterstützung seines Bruders Norbert mit Familie
Karteikarte des Jewish Distribution Commitee mit der Verpflichtung Willy Uhlmanns zur Unterstützung seines Bruders Norbert mit Familie

Die Auswanderung gelang jedoch nicht. Ob die Uhlmanns die nötigen Summen für die Reichsfluchtsteuer, die Überfahrt usw. nicht aufbringen konnten oder ob ihre Quotennummer nicht mehr aufgerufen wurde, ist unbekannt. Stattdessen musste die Familie mit der Schwiegermutter am 12. September 1941 in das zum ›Judenhaus‹ erklärte Haus des Viehhändlers Dillenberg in der Stummrigestraße 49 zu den vier Schwestern Frankenberg ziehen, wo sie etwa Ende November die Aufforderung erhielten, sich für die Abschiebung vorzubereiten.22

Insgesamt 41 Juden, 20 aus der Stadt Höxter sowie 21 Juden aus den heute eingemeindeten Dörfern Fürstenau und Ovenhausen hatten sich am 9. Dezember 1941 zum Abtransport bereit zu halten und wurden am folgenden Tag mit dem Zug von Höxter nach Bielefeld gebracht, von wo sie nach zwei Tagen drangvoller Enge im Saal der Gaststätte Kyffhäuser am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden.

Aus den drei erhaltenen Briefen an den 1936 aus Höxter nach Palästina ausgewanderten Otto Pins und dessen kurz vor dem Krieg nach England emigrierte Tante Laura Sander erfährt man Genaueres über die Ankunft in Riga und das Leben im Ghetto. Oft sind diese Briefe auch die einzige Quelle über das Schicksal einzelner Juden aus Höxter.

„Wie ich Dir schon geschrieben habe, kamen wir am 16.12.41 im Ghetto Riga an. Einige Tage vorher hatten die Nazis 34000 Letten aus den Häusern getrieben u. erschossen. Wir durften jeder 50 kg Gepäck mitnehmen, aber wir haben nichts wieder davon gesehen. Wir kamen nun in diese Wohnungen, wo die Letten gewohnt hatten. Du kannst Dir gar kein Bild machen, wie es ausgesehen hat. Die Schränke mit Vorrat umgeworfen, alles entzweigeschlagen, das Essen stand noch auf dem Herd. Da wir die ersten 14 Tage nichts zu essen bekamen, haben wir uns über die Sachen wie Lebensmittel, auch Kleidungsstücke her gemacht.“23

Ebenso wie die anderen von Bielefeld nach Riga deportierten Juden wurde Gustav Uhlmann mit seiner Familie, den Höxteraner Ehepaaren Dr. Pins und Dr. Frankenberg24 und anderen in ein Haus in der Viļānu iela einquartiert, für die sich nach der Herkunft der jetzt dort Untergebrachten der Name Bielefelder Straße einbürgerte. Während Dr. Frankenberg im Ghetto als Arzt arbeitete, wurde Gustav Uhlmann als „Ordnungsmann“25 eingesetzt, so dass er sich etwas freier im Ghetto bewegen und auch seine Frau und seinen Sohn besser beschützen konnte. Auch um seine Höxteraner Bekannten versuchte er sich zu kümmern, wie aus den Briefen hervorgeht: „Ich war vom 1. Tag an bei der Polizei und konnte dadurch in die leeren Häusern gehen. Da ich an unseren Höxteranern Interesse hatte, habe ich oft Deinen lb. Vater mit auf Lebensmittelsuche genommen, und so haben wir uns die erste Zeit dadurch gut durchgeschlagen. Zuerst war Dein lb. Vater im Innendienst. Aber im Innendienst war das Anschaffen von Lebensmittel schwer, da hat er sich zum Außendienst gemeldet. Das war so, wie ich oben schon erwähnt habe, sind wir in vollen Haushaltungen gekommen wie mit Wäsche, Kleidern u.s.w. Die Sachen wurden mit auf das Kommando genommen und an arische Letten vertauscht. Aber es war sehr schwer, weil auf Tauschhandel Todesstrafe ruhte, und sind dadurch, wenn sie aufgefallen sind, gehängt oder erschossen worden.“27

In einem anderen Brief schreibt Uhlmann: „Wir waren mit 13000 Juden dort u. heute sind davon noch einige hundert kaum. Ich kann es heute noch nicht begreifen, daß ich einer von den Geretteten bin. Siegfried Simson, der Schwiegersohn von Himmelstern, wurde schon in März 42 wegen Tauschhandel erschossen. Frau Himmelstern, Irmgart Bukofzer, meine Cousine von Vörden sind auch bald gestorben.“28

Uhlmanns Briefe verdeutlichen aber auch, dass die nach Riga deportierten Juden ihren Lebensmut und Lebenswillen nicht ganz verloren, sondern versuchten, selbst unter den fürchterlichen Bedingungen des Ghettos noch ein Gemeinschaftsleben aufrecht zu erhalten, wie sie es früher einmal geführt hatten: „Wir hatten das Ghetto so schön ausgebaut wie eine kleine Stadt. […] Im Ghetto war es wie in Höxter des Abends u. auch Sonntags. Soweit nicht gearbeitet wurde, wurden Besuche gemacht u. auch spazieren gegangen. Wer ein gutes Kommando hatte, war oben auf.“29

Über seine Tätigkeit als Angehöriger des auf Anordnung der Ghettokommandatur eingesetzten jüdischen Ordnungsdiensts im Ghetto geben Uhlmanns Nachkriegsbriefe kaum Auskunft, und er schreibt nur: „Ich war im Ghetto bei der Polizei und hatte dadurch das Glück, mit meiner Familie bis 1944 zusammen zu sein.“30 Die Aufgabe der jüdischen Ghettopolizei bestand vor allem darin, die Anordnungen der Nazis umzusetzen und Verstöße zu melden, auch wenn ihre jüdischen Mitinsassen des Ghettos darunter zu leiden hatten.31 Das erklärt sicher auch die Abneigung des Überlebenden Helmut Löwenstein, der 2013 über eine spätere Begegnung mit Gustav Uhlmann schrieb: „when i first came to new york, i met gustav ullman32. however we did not like each other. that was the last time that i saw him.“33

Letzte Lebenszeichen: Karteikarten für Johanna und Walter Uhlmann aus Stutthof, 1.10.1944
Letzte Lebenszeichen: Karteikarten für Johanna und Walter Uhlmann aus Stutthof, 1.10.1944

Ab dem Sommer 1943 wurde das Ghetto nach und nach aufgelöst. Sofern sie nicht den verschiedenen Kasernierungen zugeordnet waren, wurden die Insassen in das neu geschaffene KZ Kaiserwald und in das Arbeitslager Strassenhof verlegt und dann wie der Bruder Norbert Uhlmann mit seiner Frau Helene und der Tochter Ilse zur Ermordung nach Auschwitz verbracht oder im Juli 1944 wie die Höxteraner Ehepaare Pins und Frankenberg im Wald von Biķernieki erschossen. Nur ein kleinerer Teil blieb noch im Ghetto in Riga, darunter auch Gustav Uhlmann, der als Polizist sicher die Auflösung des Gettos mit zu beaufsichtigen hatte und noch für wenige Monate mit seiner Frau und seinem Sohn zusammen war, bis diese nach Stutthof gebracht wurden: „Meine lb. Frau u. Walter kamen am 25.8.44 zum K.Z. Stutthof bei Danzig u. ich habe seit der Zeit nichts wieder gehört.“34

Aus einem Brief Gustav Uhlmann an Laura Sander, eine Tante von Jacob Pins, 29.10.1945
Aus einem Brief Gustav Uhlmann an Laura Sander, eine Tante von Jacob Pins, 29.10.1945

Gustav Uhlmann blieb noch für einen guten Monat in Riga, bis er am 1. Oktober 1944 in die Hafenstadt Libau abgeordnet wurde, wo er vermutlich dem dorthin verlegten Armeebekleidungsamt zugeordnet war und wo die Arbeit der Häftlinge in den folgenden Monaten vor allem darin bestand, Schiffe mit Waffen, Kleidung und anderem zu be- und entladen, bis die Wehrmacht schließlich auch Libau aufgeben musste: „Ich kam von Riga nach Libau u. von dort, wie die Russen näherkamen, kamen wir mit einen Frachtdampfer nach Hamburg ins Gefängnis.“35

Mit etwa 200 noch in Libau verbliebenen Häftlingen wurde Gustav Uhlmann im Februar 1945 über die Ostsee nach Hamburg gebracht, wo sie für die folgenden Wochen im Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel (genannt Kola-Fu) eingesperrt wurden und wo die Häftlinge in den folgenden Wochen tagsüber in der Stadt zum Aufräumen der Trümmer der Bombenangriffe eingesetzt wurden.

Knapp sieben Wochen blieb Gustav Uhlmann in Fuhlsbüttel, bis die Häftlinge, manche getrennt nach Männern und Frauen, am 12. April 1945 in mehreren Kolonnen von Hamburg auf einem viertägigen Marsch in das 85 Kilometer entfernte Arbeitserziehungslager (AEL) Nordmark in Kiel-Hassee getrieben wurden, den nicht alle überlebten. Von Hamburg aus „haben wir einen Vier-Tages-Marsch nach K.Z. Kiel machen müssen. Von 1400 Mann sind wir 153 gerettet worden. Wir hatten nichts weiter mehr als unsere gestreifte Sträflingskleidung. Sie36 können sich gar nicht denken, wie das ein Gefühl war, als wir eines Morgens am 1. Mai 1945 vom Roten-Kreuz Schweden gerettet wurden. Es durfte aber auch keine 14 Tage dauern, so waren wir alle verloren. Ich habe noch 47 Kg gewogen und jetzt G.s.d. schon wieder 82 Kg. Von Höxter soll ich wohl der einzige übergeblieben sein. Von meinem Sohn u. meiner Frau habe ich noch nichts gehört und muß ich auch annehmen, daß keiner mehr da ist.“37

Gustav Uhlmann (2. v. l.) im Mai 1945 im Quarantänelager Smålandsstenar in Schweden
Gustav Uhlmann (2. v. l.) im Mai 1945 im Quarantänelager Smålandsstenar in Schweden

Weiß gestrichene und mit dem Rot-Kreuz-Zeichen gekennzeichnete Fahrzeuge der Bernadotte-Aktion38 unter dänischer Flagge brachten die Häftlinge am 1. Mai 1945 in die Freiheit. Fast verhungert und von den schweren Strapazen völlig erschöpft, wurden sie über Dänemark nach Schweden überführt. Nach einer ersten Versorgung in Malmö kam Gustav Uhlmann am 13. Mai 1945 zunächst in eine Quarantänestation in Smålandsstenar in der Nähe von Jönköping und wurde von dort am 5. Juni 1945 in das Flüchtlingsheim Holsbybrunn gebracht, wo er sich in den folgenden Monaten erholen konnte.39

Spätestens von Holsbybrunn aus nahm Gustav Uhlmann Kontakt zu seinem Bruder Willy in New York auf, dem einzigen Überlebenden seiner Geschwister, zu dem er auswandern wollte. Er erhielt einen Fremdenpass und fuhr wegen eines Visums zum amerikanischen Konsulat nach Göteborg, um dort die Möglichkeiten einer Übersiedlung in die USA zu klären, was ihm nach seiner Verlegung in ein Flüchtlingsheim in Ryds Brunn auch gelang. Vermutlich um sich ein kleines finanzielles Polster zu verschaffen, arbeitete er ab dem 25. März 1946 einen Monat lang für 100 Kronen bei freier Kost und Logis in der Gärtnerei Linder in Aspenäs, Lerum, bis er sich dann endlich am 30. April 1946 mit der S.S. Drottningholm für die Überfahrt nach New York einschiffen konnte.

Am 12. Mai 1946 legte das Schiff in New York an, und Gustav Uhlmann traf dort seinen Bruder Willy (inzwischen William) wieder, bei dem er zumindest zunächst auch wohnte und von wo aus er 1946 und vermutlich länger im Geschäft E. Greenbaum Co in New York arbeitete. Weitere Informationen darüber und über sein Leben in den USA sind jedoch nicht bekannt.

In den folgenden Jahren hielt er den Kontakt nach Höxter aufrecht, vor allem zu dem Höxteraner Karl Köster, mit dem er „im Briefwechsel“ stand.40 Der Briefwechsel mit Karl Köster ist nicht erhalten. Aber Gustav Uhlmanns zitierte Aussagen 1948 im Prozess gegen die Verantwortlichen für die Ausschreitungen der Pogromnacht in Höxter und 1952 im Rahmen der Erbauseinandersetzung Frankenberg belegen, dass er sich weiterhin über die Ereignisse in Höxter auf dem Laufenden hielt.41 Gustav Uhlmann starb am 26. September 1958 im New Yorker Stadtbezirk Bronx.42

Anmerkungen
[1] Brief an Otto Pins, 29. August 1945, einen Bekannten aus Höxter, der 1936 nach Palästina emigriert war und der dort später in Israel als Jacob Pins zu einem bekannten Holzschneider und Maler wurde. 2003 stiftete er den Bürgern der Stadt Höxter seinen künstlerischen Nachlass, der dort heute in dem nach ihm benannten Forum Jacob Pins gezeigt wird. – Die in Rechtschreibung und Zeichensetzung behutsam korrigierten Briefe Gustav Uhlmanns stammen aus diesem Nachlass.
[2] Brief an Laura Sander, eine Tante von Otto Pins, 29. Oktober 1945.
[3] Das Anfang des 19. Jahrhunderts von Behrend Soistmann, dem Sohn des ermordeten Juden Soistmann Berend aus Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche, und seinem Stiefvater Salomon Seligmann [Archenhold] errichtete Haus wurde 2000 in das Freilichtmuseum in Detmold transloziert, wo es heute als Zeugnis jüdischer Wohn- und Alltagskultur auf dem Lande zu sehen ist.
[4] Grete Uhlmann wurde am 10. November 1941 von Düsseldorf nach Minsk deportiert. Der Bruder Norbert wurde wie Gustav Uhlmann mit Frau und Tochter am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Seine Frau Helene und die Tochter Ilse wurden 1944 in Auschwitz ermordet.
[5] Vgl. Mitschke-Buchholz, Zwischen Nachbarschaft und Deportation. Erinnerungen an die Ovenhausener Jüdinnen und Juden. In: Stefan Baumeier / Heinrich Stiewe (Hg:): Die vergessenen Nachbarn. Juden auf dem Lande im östlichen Westfalen. Bielefeld 2006, S. 79-99.
[6] Ort und Arbeitgeber unbekannt.
[7] Ob auch der dritte Bruder Norbert im Krieg an die Front musste, ist unbekannt.
[8] Zeitzeugen bezeichneten ihn irrtümlich sogar als Geschäftsführer.
[9] 1929-1932: Westerbachstr. 9.
[10] Zeitzeuge Heinrich Alsweh, 4. August 1988.
[11] Vgl. Stadtarchiv Höxter, C II, 5,46, Bericht vom 27. Juni 1947: „Die Genehmigung zum Durchgang durch den Friedhof zu der dahinterliegenden Landparzelle hat Herr Gustav Uhlmann bei seinem Fortgang[!] im Jahre 1943 [richtig: 1941] an Frau Martha Müller, Papenstr. 12 erteilt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Herr Uhlmann und Frau Müller die Nutzung des oben genannten Gartens je zur Hälfte. Herr U. hat Frau Müller auch den Schlüssel ausgehändigt.“
[12] Vgl. Stadtarchiv Höxter, C II, 1,8.
[13] Vgl. z. B. NS-Volksblatt, 10. August 1935.
[14] Öffentlicher Schaukasten, in dem die aktuelle Ausgabe des antisemitischen Wochenblatts Stürmer kostenlos zu lesen war, von der örtlichen NSDAP auch für Aushänge benutzt.
[15] Vgl. Mitschke-Buchholz (wie Anm. 3), S. 90.
[16] Vgl. „Die Pogromnacht des 9./10. November 1938 in Höxter“; http://www.jacob-pins.de/?article_id=514&clang=0.
[17] Prozess Paderborn 1948. Gustav Uhlmanns Bruder Norbert wurde erst am 19. Dezember 1938 aus Buchenwald entlassen.
[18] Risches (jidd.): Bosheit, Hetze, Antisemitismus.
[19] Brief an Otto Pins, Mitte Oktober 1945. Vgl. auch: „Von der Pogromnacht zur ‚Endlösung‘ – Juden in Höxter zwischen 1938 und 1941/42“, http://www.jacob-pins.de/?article_id=529&clang=0.
[20] Brief an Otto Pins, 29. August 1945.
[21] Zeitzeuge Heinrich Alsweh, 4. August 1988.
[22] Johanna Uhlmanns 81-jährige Mutter Bertha Katz blieb noch in Höxter und musste mit anderen alten Juden in das zum ‚Judenhaus‘ erklärte beschädigte Gebäude der Synagoge ziehen, von wo sie am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Dort kam sie zwei Wochen später am 16. August 1942 um.
[23] Mitte Okt. 1945 an Otto Pins, ähnlich in dem Brief an Laura Sander, 29. Oktober 1945.
[24] Vgl. die eidesstattliche Erklärung im Rahmen der Erbauseinandersetzung Frankenberg, 11. Februar 1952, und Brief an Otto Pins, Mitte Oktober 1945. – Das Ehepaar Frankenberg wurde später in Strassenhof inhaftiert, das Ehepaar Pins blieb in der Kasernierung Reichsbahn. Sie alle wurden Ende Juli 1944 im Wald von Biķernieki ermordet.
[25] Eidesstattliche Erklärung im Rahmen der Erbauseinandersetzung, New York, 11. Februar 1952.
[26] Der Höxteraner Tierarzt Dr. Leo Pins.
[27] Brief an Otto Pins, Mitte Okt. 1945.
[28] Brief an Otto Pins, 29. August 1945. Ähnlich am 29. Oktober 1945 an Laura Sander: „Es sind gleich [nach der Ankunft im Ghetto] viele gestorben: Frau Himmelstern, Bukofzer, das Kind von Bukofzer, auch meine Cousine von Vörden. Simson ist erschossen worden.“
[29] Brief an Otto Pins, Mitte Okt. 1945.
[30] Brief an Otto Pins, 29. August 1945.
[31] Vgl. Christin Sandow (Hrsg.), »Schießen Sie mich nieder!« Käte Frieß’ Aufzeichnungen über KZ und Zwangsarbeit vom 1941 bis 1945, Berlin 2017, S. 65: „Wie entsetzlich waren all die Aktionen im Ghetto, das Antreten und immer stundenlange Stehen auf dem Appellplatz und die vielen, vielen Hinrichtungen. Gustav U., der heute noch unter uns weilt, war der erste Polizist, der das traurige Amt hatte, den ersten Menschen im Ghetto zu erhängen. Ich glaube, gerade er könnte das meiste von diesem traurigen Kapitel berichten.“
[32] Die Schreibungen Ullman{n] statt Uhlmann findet man auch in anderen Quellen.
[33] E-Mail von Harry Lowenstein, 24. September 2013. – Harry Löwenstein (geb. 26. Mai 1931) wurde mit seinen Eltern und seiner Schwester deportiert, überlebte das Rigaer Ghetto, die KZs Kaiserwald und Stutthof und wurde auf dem Todesmarsch nach Westen von der Roten Armee befreit. Er lebt heute in Florida. Siehe „Harry Lowenstein (Helmut Löwenstein) aus Fürstenau – Erinnerungen eines Überlebenden“, http://www.jacob-pins.de/?article_id=454&clang=0
[34] Brief an Otto Pins, 29. August 1945. Letzte Lebenszeichen von Johanna und Walter Uhlmann sind ihre Karteikarten aus Stutthof vom 1. Oktober 1944. – Am 29. Oktober 1945 schrieb Gustav Uhlmann an Laura Sander: „Von meinen Sohn u. meiner Frau habe ich noch nichts gehört und muß ich auch annehmen, daß keiner mehr da ist.“
[35] Brief vom 29. Oktober 1945 an Laura Sander.
[36] Die Adressatin Laura Sander.
[37] Brief vom 29. Oktober 1945 an Laura Sander. – Die Gewichtszunahme von 47 kg auf 82 kg innerhalb von fünf Monaten ist sicher eine Übertreibung.
[38] Bernadotte-Aktion: Aktion von Folke Bernadotte (Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes) zusammen mit jüdischen Organisationen, durch die zahlreiche KZ-Häftlinge nach Schweden in die Freiheit gerettet wurden.
[39] Reichsarchiv Stockholm, Statens Utlännings Kommision, SUK FI AC: 21344.
[40] „Herr Köster steht mit Herrn G. Uhlmann […] im Briefwechsel.“ Stadtarchiv Höxter, C II, 5,46, 27.6.1947.
[41] Ein Artikel in der Freien Presse (Bielefeld) vom 8. Januar 1951 mit der Erwähnung Gustav Uhlmanns war bisher leider nicht zugänglich.
[42] Ancestry, Sterbeindex von New York.

Fritz Ostkämper, 1.4.2021
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de