Jüdische Bürger in Höxter

Louis Frankenberg und seine Frau Helena am Grab des Urgroßvaters Gustav in Höxter.
Louis Frankenberg und seine Frau Helena am Grab des Urgroßvaters Gustav in Höxter.

Auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie –
Louis Frankenberg in Höxter

„Als ob ich mein Familiengedächtnis wiederbekomme, so kommt es mir vor, wenn ich all die neuen Informationen über die außergewöhnlichen deutschen und holländischen Brüder Dr. Richard und Louis Frankenberg erfahre. Mein Großvater hatte denselben Charakter wie Dr. Richard, und beide leisteten so viel humane und soziale Arbeit in den beiden Städten, in denen sie lebten.“ So beschreibt Louis Frankenberg seine Gefühle in einem E-Mail, als ich ihm im Herbst 2000 einen vorläufigen Überblick über seine Familie schickte.

Frankenberg – eine in Höxter seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bekannte und geschätzte jüdische Familie, die in der Westerbachstraße 16 ein Konfektionsgeschäft betrieb. Der jüngste Sohn Dr. Richard Frankenberg war von 1910 bis ins 3. Reich ein hoch angesehener jüdischer Arzt, und nach ihm wurde 1973 in Höxter eine Straße benannt (vgl. die Kurzfassung seiner Biographie im OMNIBUS 1988, S. 20f). Siegmund Rosenberg, der älteste Sohn aus erster Ehe, führte in der Corveyer Allee 2 ein Geschäft für Kohle und Baumaterial. Die Töchter waren verheiratet oder lebten ledig in Höxter. Der Sohn Emil arbeitete als Vertreter in Hamburg. Und der Sohn Louis wanderte um 1900 nach Alkmaar in Holland aus, wo er die größte Buchhandlung Nordhollands betrieb, die dann sein Sohn Hans Lion übernahm.

So weit in aller Kürze die Familiengeschichte von Louis Frankenberg, der in Alkmaar seinen Vornamen nach seinem Großvater bekam und der im Januar 2001 auf den Spuren seiner Familie in Höxter auch das KWG besuchte.

1988 war Louis Frankenberg zum ersten Mal für wenige Stunden in Höxter, um im Stadtarchiv nach den Wurzeln seiner Familie zu suchen, von denen ihn die Judenverfolgung des 3. Reiches abgeschnitten hatte; denn fast alle Angehörigen seiner Familie wurden in den KZs der Nazis ermordet. 1988 erfuhr fast niemand von seinem Besuch, aber er lernte Frau Kraft sen. kennen, die mit der Familie Frankenberg befreundet gewesen war und die ihm etliches erzählen konnte. So ergaben sich die ersten Kontakte. Aber der Mantel des Schweigens über die Nazi-Zeit hielt damals in Höxter noch recht dicht.

Im September 2000 kam Louis Frankenberg zum zweiten Mal nach Höxter, wo er vom Bürgermeister begrüßt wurde und die 1988/89 entstandene Dokumentation über seinen Großonkel Dr. Richard Frankenberg erhielt. Wieder besuchte er die Krafts, jetzt den Sohn Karl-Heinz (Tierarzt), da Frau Kraft sen. inzwischen gestorben war. So bekam ich die E-Mail-Adresse, und in den folgenden Monaten entwickelte sich ein intensiver Austausch von Briefen, Informationen, Fotos usw., die Louis Frankenberg halfen seine Familie kennen zu lernen. In einem Brief schreibt er:

„Vielen vielen Dank für die Fotos, die gestern mit Einschreiben ankamen. Sie werden mir nicht glauben, was für eine Büchse der Andorra sie öffneten… Aber jetzt von Anfang an. Seit meiner Rettung vor den Nazis hatte ich aus Alkmaar, Holland, mehrere Fotoalben aus meiner Familie vom Anfang des Jahrhunderts bis ungefähr 1943. Eines der Alben war noch von meinem Großvater oder Vater mit zahlreichen Familienfotos. Die meisten Fotos waren sehr alt (vielleicht 1890 oder später) und waren unbeschriftet.. Außer meinem eigenen Großvater und meiner Großmutter (Louis und Cilla geb. Wolf) konnte ich keine anderen Mitglieder der Familien Frankenberg oder Wichelhausen [Frau von Dr. Richard Frankenberg] identifizieren. Da ich keine genaue Vorstellung hatte, wer auf all diesen Fotos Richard war oder seine Frau oder Emil oder eine der Schwestern, sah ich auf den Fotos ohne Namen und Datum nur Fremde. Durch die Fotos, die Karl Heinz [Kraft] schickte, bekam ich endlich eine genaue Vorstellung, wer Richard war und wer Anne und wie sie als Erwachsene aussahen. Meine Frau und ich begannen zu suchen, und wir erkannten jetzt die meisten (außer den Schwestern). Wir fanden auch ein kleines Hochzeitsfoto von Dr. Richard mit all den Verwandten, vermutlich in Herstelle [dem Heimatort von Frau Anne] aufgenommen, mit Louis, Emil, ihrer Mutter (als Witwe), den Vater und die Mutter von Aenne.. Wir fanden auch eine Foto mit dem gleichen kleinen Hund, genau demselben Hund, der auf einem der von Karl Heinz geschickten Fotos auftauchte! Es war fantastisch, wie all diese Personen plötzlich in den Blick kamen, wie ein Puzzle…“

Zugleich wühlten all diese Informationen ihn bis ins Innerste auf: „Als ich gestern Abend nach Hause kam und den Stammbaum, den ich hatte, mit Ihrem verglich und all die Fehler und unvollständigen Informationen bei mir sah, die Sie viel genauer hatten – da konnte ich mich nicht mehr halten und, allein im Zimmer, begann ich zu weinen… Ein Mann von 64 Jahren sollte nicht weinen, aber die Gefühle waren zu tief, als ich auf Ihrem Stammbaum all die ermordeten und verschwundenen Frankenbergs sah. Ganz sicher waren die allermeisten gute und patriotische deutsche Bürger, und nur wegen ihrer Religion mussten sie sterben…, sie, die, soweit ich weiß, mehr als 200 Jahre dort in Höxter gelebt hatten.
In diesem Augenblick voller Gefühle beschloss ich, noch einmal nach Höxter zu kommen, um auch mit der Jugend zu sprechen, damit sie diese schreckliche Zeit besser versteht.“

Helena und Louis Frankenberg an der Gedenktafel im KWG (3. u. 4. v.l.)

So kam es, dass Louis Frankenberg und seine Frau Helena bereits ein Vierteljahr später im Januar 2001 wieder nach Höxter kamen. Und für alle Beteiligten waren diese gut zwei prall gefüllten Tage eine Zeit intensivster Gefühle und Gespräche: über die Gegenwart, den Staat Israel und seine Siedlungspolitik, über die Kinder und die Familien – und natürlich über die Vergangenheit. So besuchte Louis mit seiner Frau in Löwendorf, Vörden, Bellersen und Nieheim auf den jüdischen Friedhöfen die Gräber seiner Vorfahren und anderer Angehöriger seiner Familie. Vor allem in Höxter, als er an den Gräbern seiner Urgroßmutter Jenny und seines Urgroßvaters Gustav stand, konnte er seine Bewegung nicht unterdrücken. Ebenso wenig vor der Gedenktafel auf dem Höxteraner Friedhof, auf der die Namen von fünf Geschwistern seines Großvaters verzeichnet sind, die im Holocaust ermordet wurden: Lina, Eugenie, Olga, Gretchen und Richard, von den vielen anderen Angehörigen der Familie Frankenberg gar nicht zu sprechen.

Trotzdem fühlt Louis Frankenberg keinen Hass auf die Deutschen und spricht sie nicht einfach alle schuldig. „Man muss immer den Menschen sehen. Gute und böse Menschen gibt es immer und überall.“, sagt er, und er fügt hinzu: „Die heutigen jungen Deutschen können nichts dafür. Und in 100 Jahren steht das nur noch im Geschichtsbuch. Die jungen Deutschen können nichts dafür.“

Damit will er keinesfalls dem Vergessen das Wort reden, und deshalb war es für ihn auch besonders wichtig, zu jungen Menschen von seinen traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Denn einen Vormittag verbrachte er natürlich auch im KWG, der Schule, auf der neben dem Großonkel Richard auch sein Großvater Louis und die beiden Großonkel Emil und Siegmund gewesen waren. Nach der Begrüßung durch Dr. Mayer besuchte er die Gedenktafel für die in den KZs ermordeten ehemaligen jüdischen Schüler des KWG und sprach dann zwei Stunden lang mit den Schülern einer 10. Klasse über sein Leben und seine Erinnerungen. Dazu schrieb er ein paar Tage später: „Mit den Schülern des KWG zu sprechen war eine großes und tief gehendes Erlebnis. All diese Kinder, die ihre Fragen stellten, und ich, der versuchte, möglichst gut und ehrlich darauf zu antworten… Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich öffentlich über diese fürchterliche Zeit in meinem Leben sprach und dann noch mit Kindern.“

So gern Louis Frankenberg auch noch mit anderen Schülern gesprochen hätte – dazu reichte die Zeit einfach nicht. Aber schon die zwei Tage haben geholfen, auch in Höxter die Erinnerung wachzuhalten und zu zeigen, wie wichtig es auch heute ist, allen Äußerungen von Rassismus und Rechtsradikalismus entgegenzutreten.

Fritz Ostkämper, 2001
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de