Jüdische Bürger in Höxter

Mord aus Barmherzigkeit

Herbert Bierhoff und die Familie Bierhoff in Borgentreich

Herbert Bierhoff, am 19. Juni 1903 als Sohn des Viehhändlers Victor Bierhoff und seiner Frau Regina in Borgentreich Nr. 108 geboren, wechselte nach der dortigen Volksschule und anschließendem Privatunterricht (möglicherweise in einem damals bestehenden privaten Lehrinstitut in Lauenförde) 1915 auf das König-Wilhelm-Gymnasium in Höxter, das schon sein Vater Victor und sein Onkel Jacob besucht hatten. Wie diese beiden wohnte er wegen der schlechten Verkehrsverbindung nach Borgentreich in den folgenden Jahren bei dem höxterschen Viehhändler Nathan Dillenberg in der Stummrigestraße 47, einem Bruder seiner Großmutter.

Herbert Bierhoff durchlief die Schullaufbahn ohne Schwierigkeiten und verließ Ostern 1920 das KWG mit der Mittleren Reife, um einen „praktischen Beruf“ zu ergreifen. Vielleicht trat er in den Viehhandel seines Vaters ein, denn wie dieser wird er noch 1929 als Einwohner in Borgentreich genannt. Vermutlich um diese Zeit heiratete er die in Rotenburg a.d. Fulda geborene Toni Kaufmann (* 1907), jedoch kam es später zur Scheidung, und in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wohnten die beiden getrennt in Kassel, von wo Toni am 7.9.1942 nach Theresienstadt und dann am 29.1.1943 zur Ermordung nach Auschwitz deportiert wurde.

Wohl um die Mitte der 1930er Jahre lernte Herbert Bierhoff seine zweite Frau, die am 12. Juli 1915 in Essen geborene Ruth Nathan, kennen. Ruth war 1928 (vielleicht nach dem Tod der Mutter) nach Brakel gezogen, wo ihre Tante Sophie mit ihrem Mann Wilhelm Stein lebte. Nach dem Abschluss der Volksschule arbeitete Ruth in den folgenden Jahren als Hausangestellte in Meschede und in Frankfurt, bei der höxterschen Kaufmannsfamilie Löwenstein, in Berlin und in Warburg. Zwischenzeitlich kehrte sie immer wieder nach Brakel zurück, und in dieser Zeit dürften sich Herbert Bierhoff und und Ruth Nathan begegnet sein.

Das Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge in Frankfurt
Das Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge in Frankfurt

Hochschwanger fand die 22-jährige Ruth Nathan Ende August 1937 Aufnahme im Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg. Am 10. Okt. 1937 brachte sie in Frankfurt (vermutlich im Israelitischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36) ihre Tochter Ellen Nathan zur Welt und kehrte mit ihr noch für zwei Monate in das Heim „Isenburg“ zurück. Die folgende Zeit lebten die beiden (offenbar getrennt) in Frankfurt, wo die Tochter Ellen 1939 im „Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge“ gemeldet war.

Ob Herbert Bierhoff Ellens leiblicher Vater war oder ob Ellen aus einer anderen Beziehung der Mutter Ruth stammte, bliebt mangels urkundlicher Nachweise ungewiss. Aber mit seiner Heirat mit der Mutter Ruth Nathan am 23. Aug. 1939 adoptierte Herbert Bierhoff auch die kleine Ellen, und sie wurde offiziell seine Tochter, mit der die Eltern noch für gut zwei Jahre unter verschiedenen Adressen in Kassel lebten.

Am 9. Dez. 1941 mussten sich Herbert, Ruth und Ellen Bierhoff mit über 1000 Juden aus Hessen am zentralen Sammelpunkt, einem Turnhallenkomplex der Bürgerschulen an der Schillerstraße in Kassel, mit ihrem geringen erlaubten Gepäck einfinden und von dort zum Hauptbahnhof marschieren, von wo sie der Deportationszug in das Ghetto Riga brachte. Am 12. Dezember 1941 kam der Zug nach 70-stündiger Fahrt am dortigen Bahnhof in Skirotava an. Durch tiefen Schnee mussten die Juden unter Zurücklassung des größeren Gepäcks, das sie nie wiedersahen, bei Temperaturen unter -10° C fünf Kilometer zum Ghetto marschieren. Nur etwa 100 der mit diesem Zug aus Kassel deportierten Juden überlebten den Holocaust.

Murder most merciful

Nach der Deportation aus Kassel verlieren sich die Spuren der Familie weitgehend. Ein Überlebender, der mit demselben Transport als 13-Jähriger mit Mutter und Bruder aus Kassel verschleppte Siegfried (Sigi) Ziering, hat jedoch als 70-Jähriger in seinem 1999 uraufgeführten Theaterstück „The Judgment of Herbert Bierhoff“ [1] das Schicksal der Familie festgehalten, auch um die traumatischen Erfahrungen seiner eigenen Jugendzeit zu verarbeiteten. Sicher handelt es sich bei dem Stück nicht um eine historische Quelle, jedoch dürfte die Darstellung des Schicksals der Familie Bierhoff im Kern authentisch sein. Oder wie Shimon, die Verkörperung Zierings im Stück zu Beginn sagt: „Let me now try to tell you the Bierhoff story as reconstructed from facts known to me and others who were there, as well as from recurring dreams and nightmares I have had in the past 50 years.“

Nach Sigi Zierings Schilderung wurde Herbert Bierhoff in Riga der jüdischen Ghettopolizei zugeteilt. In dieser Funktion gelang es ihm lange Zeit, seine Frau Ruth und die Tochter Ellen vor der Verschickung in andere Lager und vor den regelmäßigen Selektionen zu bewahren, bei denen vor allem die nicht arbeitsfähigen Kinder und Alten ermordet wurden.

Als Mitglied der Ghettopolizei erfuhr Herbert Bierhoff früher als andere von den Verschleppungen und Selektionen, von denen auch seine Tochter bedroht war und die er nicht mehr beschützen konnte. Außer sich vor Verzweiflung über das Schicksal, das die sechsjährige Ellen erleiden sollte, vergiftete er sie, um ihr das schlimmste Martyrium zu ersparen.

Nach Ziering Theaterstück wurde Herbert Bierhoff am folgenden Morgen auf dem Hof neben der Leiche seiner Tochter entdeckt, wo er fieberhaft versuchte mit einem Löffel ein Grab für sie zu schaufeln. Er wurde vor den KZ-Kommandanten Roschmann geschleppt, der ihn als jüdisches Schwein beschimpfte und auf der Stelle erschießen ließ.

Der Zeitpunkt der Ereignisse ist unklar. Ziering legt Herbert Bierhoffs Verzweiflungstat in den Herbst 1943. Das Datum ist schlüssig. Die ab Sommer 1943 beginnenden Auflösung des Ghettos Riga und die Verlegung der Bewohner in das KZ Riga-Kaiserwald zog sich bis zum Herbst hin. Am 2. Nov. 1943 wurde das Ghetto durchkämmt, und über 2000 Häftlinge wurden in den folgenden Tagen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Ebenso schlüssig ist auch das im Gedenkbuch des Bundesarchiv genannte Todesdatum Ellen Bierhoffs am 22. April 1944. Denn nach der Räumung des Ghettos Riga blieb dort noch ein kleines Säuberungskommande bis 1944 zurück (unter ihnen etwa auch der Höxteraner Gustav Uhlmann mit Frau und Sohn). Mit dem Heranrücken der Roten Armee begannen SS und Polizei 1944 mit der systematischen Rückführung der jüdischen Häftlinge nach Westen in das KZ Stutthof, wo die noch überlebende Ruth Bierhoff am 9. Aug. 1944 ankam, wie durch Quellen belegt ist. Das Datum ihres Todes ist unbekannt. Sie starb möglicherweise auf einem der Todesmärsche aus Stutthof Richtung Westen.

Ziering wusste von der Deportation Ruth Bierhoffs nach Stutthof und von ihrem Tod. Er selbst wurde zwar nicht nach Stutthof verschleppt, sondern gelangte mit Mutter und Bruder auf demselben Weg wie der Höxteraner Gustav Uhlmann und die Fürstenauerin Carla Pins 1945 in die Freiheit nach Schweden. Aber er imaginiert eine Begegnung mit der sterbenden Ruth Bierhoff nach ihrer Befreiung durch die Rote Armee Anfang 1945, wo sie ihn noch im Todeskampf verzweifelt bittet, die Barmherzigkeit in der Tat ihres Mannes zu erkennen.

Die Familie Bierhoff in Borgentreich

Die Informationen über Familie Bierhoff reichen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, und rund 130 Jahre lang wird diese Familie in Borgentreich verzeichnet. Genauere Nachforschungen fehlen jedoch, und die Datenlage ist unübersichtlich, so dass die folgende Darstellung sicher nicht ohne Fehler ist.

Polizeiliche Suche nach Levi Bierhoff
Polizeiliche Suche nach Levi Bierhoff

Herz Bierhoff, der erste bekannte Namensträger, hatte mit seiner Frau Sarchen Isaak mindestens fünf Kinder, von denen eines aber tot geboren wurde. Zwei der Kinder wanderten nach Amerika aus, die als Cohn verheiratete Tochter Rosa (ca. 1811 – 1891), die 1891 80-jährig in New York starb, und 1838 ihr Bruder Levi Bierhoff (* 1817), der sich damit dem preußischen Kriegsdienst entzog und deshalb 1842 gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte.

Herz Bierhoffs zweite Tochter Johanna (Hanne) (1813–1907) heiratete den Brakeler Isaak Scheideberg und hatte mit ihm zehn Kinder, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

Abraham Bierhoff und seine Nachkommen

Herz Bierhoffs Sohn Abraham, dessen Lebensdaten bisher nicht vorliegen, blieb in Borgentreich, und auf ihn geht die weitere Familie hier zurück. Mit der aus Brakel stammenden Mina Hakesberg (1802–1899) hatte er fünf(?) Kinder, von denen drei (oder vier) Söhne in die USA auswanderten.

Als erster fuhr 1856 der 1838 geborene Salomon Bierhoff als 18-Jähriger nach Amerika. Über ihn ist jedoch nichts Weiteres bekannt. 1860 wanderte auch Abraham Bierhoffs jüngerer Sohn Samuel (1845–1922) aus Borgentreich in die USA aus. Über ihn ist in den Quellen überliefert, dass er in den folgenden Jahrzehnten als offenbar erfolgreicher Kaufmann für Kurzwaren und Geschenkartikel in San Francisco lebte.

Einbürgerung Aaron Bierhoffs in den USA
Einbürgerung Aaron Bierhoffs in den USA

Als dritter zog auch Abraham Bierhoffs Sohn Aaron (* 1843) 1864 als illegaler Auswanderer in die USA, wo er 1870 eingebürgert wurde. 1873 ist eine weitere Überfahrt belegt. Er blieb jedoch nicht in den USA, sondern kehrte nach Deutschland zurück und lebte mit seiner Frau Lena dann im nahen Bonenburg, wo auch die fünf Kinder geboren wurden.

Nur über Aaron Bierhoffs mittleren Sohn Max (1880–1944) ist Genaueres bekannt. Er heiratete die aus Neuenhain (Obertaunus) stammende Käthe (Kathinka) Katz (* 1887) und lebte wie seine Eltern mit ihr in Bonenburg. Ihren vier Kindern gelang im Dritten Reich die Flucht nach Amerika. Dagegen wurde ihr Vater Max nach der Pogromnacht 1938 für vier Wochen nach Buchenwald verschleppt und dann am 1.8.1942 mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert. Dort kam er am 20.8.1944 um, während seine Frau Käthe am 9.10.1944 zur Ermordung nach Auschwitz gebracht wurde.

Außer dem nach Deutschland zurückgekehrten Aaron lebten noch zwei weitere Kinder Abraham Bierhoffs in in Deutschland. Die Tochter Johanna (1849–1940) heiratete 1869 den Ovenhäuser Viehhändler Meyer Dillenberg (1837–1910) und hatte mit ihm acht Kinder. Das Schicksal dieser Familie wird an anderer Stelle behandelt.

Abraham Bierhoffs Sohn Herz und seine Kinder

Abraham Bierhoffs ältester Sohn erhielt nach seinen Großvater den Namen Herz (* 1836), und er führte das Handelsgeschäft seines Vaters in Borgentreich weiter. Er heiratete 1865 die aus Ovenhausen stammende Jeanette (Schönchen) Dillenberg (* 1831), und die beiden bekamen zwei Söhne, Jacob und Victor.

Jacob Bierhoff (* 1868), der ältere, besuchte zunächst die jüdische Schule in Höxter und ging 1879 auf das KWG, das er 1866 mit dem „Einjährigen“ verließ. Er wurde Kaufmann, heiratete die aus Erder (Kalletal) stammende Friederieke (Rieke) Silberberg (* 1869) und verzog dann offenbar aus Borgentreich, anscheinend nach Hannover. Von dort wurden die beiden am 15.12.1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Über Kinder ist nichts bekannt.

Der jüngere Bruder Victor Bierhoff (* 1869) wechselte 1880 von der Bürgerschule Borgentreich auf das Gymnasium in Höxter., verließ es aber bereits nach drei Jahren, um Metzger zu werden. Er trat sicher in den Handel des Vaters ein und wird noch mindestens bis 1929 in Borgentreich genannt.

Victor Bierhoff heiratete die ebenfalls in Borgentreich geborene Regina Sostheim (* 1874), und die beiden hatten vier Kinder. Während Victor Bierhoff offenbar in den 1930er Jahren starb, wurden seine Frau und drei der Kinder Opfer des Holocaust, darunter der oben bereits ausführlich dargestellte Sohn Herbert. Nur der 1926 in die USA ausgewanderte Sohn Alfred (1901–1975) entging der Vernichtung und gründete in St. Louis eine Familie.

Victor Bierhoffs Frau Regina zog nach dem Tod ihres Mannes zu der ältesten Tochter Margarete Käthe (* 1896), die in Salzkotten mit dem Viehhändler Josef Blumenfeld (* 1880) verheiratet war und mit ihm die Töchter Hilde (* 1920) und Resi (1921) hatte. Als Margarete am 31.3.1942 mit ihrem Mann und den Kindern nach Warschau deportiert wurde, blieb Regina Bierhoff noch für kurze Zeit zurück, bis sie am 31.7.1942 nach Theresienstadt und wenige Wochen später am 23.9.1942 zur Ermordung nach Treblinka deportiert wurde.

Auch Irma (* 1901), die zweite Tochter Victor Bierhoffs, starb im Holocaust. Sie war in Frankfurt mit einem bisher nicht identifizierten Julius Goldschmidt verheiratet und hatte mit ihm den Sohn Günter. Während dieser im Dritten Reich rechtzeitig ins amerikanische Exil fliehen konnte und dort eine Familie gründete, wurde seine Mutter am 9.12.1941 von Kassel nach Riga und am 9.8.1944 nach Stutthof verbracht. Dort verliert sich ihre Spur.


Sicher gehörten auch weitere Träger des Namens Bierhoff in den USA zu der Borgentreicher Familie, jedoch lassen sich die verwandtschaftlichen Verhältnisse bisher nicht klären. Das gilt etwa für den 1851 aus Preußen als 11/12-Jähriger in die USA ausgewanderten Joseph Bierhoff (* 4/1839). Er könnte ein weiterer Sohn von Abraham Bierhoff sein, der zu seinen Verwandten in die USA ging. Bei den Auswanderungsdaten gibt es jedoch Unstimmigkeiten. Dieser Joseph Bierhoff lebte mit seiner Frau Julia Lilienfeld (1843–1910) und den Kindern in Manhattan und später in New Jersey.

Auch ein Samuel Bierhoff (* um 1863), der 1905 ebenfalls in Manhattan gemeldet war, dürfte zur Familie gehören. Vielleicht ist er derselbe, der 1888 mit dem geschätzten Geburtsjahr 1865 unter derselben Adresse in San Francisco genannt wird wie der dort gesicherte Samuel Bierhoff (vielleicht ein Hinweis, dass Joseph Bierhoff ebenfalls ein Sohn des oben genannten Abraham Bierhoff war).

Für einen weiteren Samuel Bierhoff (* um 1834) ist nur nachgewiesen, dass er 1868 aus Deutschland in die USA einwanderte. Die wahrscheinliche Verwandtschaft zu der Borgentreicher Familie lässt sich bisher nicht klären.
Das gilt auch für den 1869 in New York eingebürgerte Isaac Bierhoff, der ebenfalls ein Sohn Abraham Bierhoffs sein könnte.

1 Veröffentlicht in: Murder Most Merciful. Essays on the Ethical Conundrum Occasioned by Sigi Ziering’s The Judgment of Herbert Bierhoff. University Press of America, 2005. – Dr. Herbert Ziering (1928-2000) lebte nach dem Krieg als Chemiker in den USA, wo er ein multinationales Diagnostikunternehmen aufbaute.

Fritz Ostkämper, Stand: 15.11.2018
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de