Jacob Pins Leben und Werk

 Jacob (Otto) Pins mit seinen Eltern 1936 vor seiner Abreise nach PalästinaDr. Leo Pins (mit Hut) 1941 bei der Deportation auf dem Bahnhof in Bielefeld

Die Eltern Dr. Leo und Ida Pins, geb. Lipper

Etwa seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in Höxter das Textilwarengeschäft der Familie Lipper, die vorher in Fürstenau gelebt hatte. Es wurde geführt von Jacob Lipper und der aus Horn stammenden Emilie geb. Benjamin. Nach dem Tod des Vaters 1908 ging das Geschäft, in dem vor allem Wäsche verkauft wurde, in die Hände des Sohnes Benno über, der vor 1900 das Gymnasium in Höxter besucht hatte. Die jüngste Tochter Ida heiratete 1916 den Tierarzt Dr. Leo Pins, der seit 1911 in Höxter praktizierte.

Leo Pins wurde 1884 in Dülmen als Sohn des Viehhändlers Herz Pins und der aus Blankenstein (Hattingen) stammenden Friederike geb. Blume geboren. Er entstammte einer in Dülmen alteingesessenen jüdischen Familie, die seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland lebte. Die Ahnen hießen del Pinto und flüchteten Ende des 15. Jahrhunderts vor der Judenverfolgung durch die Inquisition aus Spanien und gelangten um 1700 über die Niederlande ins Münsterland, wo sie als Viehhändler und Metzger, später auch als Textilkaufleute tätig waren (Dülmen, Lüdinghausen, Wolbeck, Unna…). (Siehe hierzu unter anderem Dülmener Heimatblätter, Heft 1, 2003)

Leo Pins besuchte nach der Volksschule die Rektoratschule in Dülmen und wechselte 1900 zur Untersekunda auf das Königliche Gymnasium in Coesfeld, wo er 1904 das Abitur ablegte. Anschließend studierte in München und Hannover Veterinärmedizin und erhielt Anfang 1909 seine Approbationsurkunde. Um praktische Erfahrungen zu gewinnen, arbeitete er danach als Assistent bzw. Vertreter in verschiedenen Tierarztpraxen.

Approbationsschein und Titelblatt der Dissertation
Approbationsschein und Titelblatt der Dissertation

Im Herbst 1909 entschloss er sich zur Promotion („Die Bedeutung der Gefrierpunktserniedrigung der Milch für die Milchkontrolle“), für die er die praktischen Untersuchungen am Physiologischen Institut der Universität Münster durchführte. 1910 reichte er seine Dissertation an der tierärztlichen Hochschule in Dresden ein und wurde zum Dr. med. vet. promoviert.

Niederlassung in Höxter, Huxaria 1.4.1911
Niederlassung in Höxter, Huxaria 1.4.1911

Anfang April 1911 ließ er sich als Tierarzt in Höxter nieder, wo er aber vor allem bei Tierärzten in der Umgebung arbeitete (Dr. Hermann Blumenfeld, Paderborn; Dr. Paul Stern, Warburg). In Höxter lernte er seine spätere Frau Ida Lipper kennen, die er 1916 heiratete. Zuvor musste er jedoch noch in den Ersten Weltkrieg ziehen, in dem er als Veterinäroffizier (Oberleutnant) an der West- und an der Ostfront eingesetzt war und mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet wurde.

Nach dem Krieg blieb die Familie mit den 1917 und 1920 geborenen Söhnen Otto (Jacob) und Rudolph (Rudi) zunächst nur für eine kurze Zeit in Höxter und zog wegen der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit 1920 nach Lüdinghausen, wo Dr. Leo Pins als Tierarzt arbeitete und mit seiner Familie am Wolfsberg 262 wohnte, in einem ›ganz alten Haus‹ am (damaligen) Rande der Stadt, wie sich der Sohn Rudi erinnerte.

Anzeigen zur Eröffnung der Tierarztpraxis und zur Übernahme des Geschäfts, Dezember 1926
Anzeigen zur Eröffnung der Tierarztpraxis und zur Übernahme des Geschäfts, Dezember 1926

Ende 1926 kehrte die Familie nach Höxter zurück. Frau Ida übernahm von ihrem Bruder Benno, der nach Braunschweig verzog und dort um 1930 bei einem Unfall auf dem Bahnhof starb, das elterliche Wäschegeschäft. Dr. Pins baute im Elternhaus seiner Frau in der Marktstr. 12 eine typisch ländliche Tierarztpraxis mit hauptsächlich bäuerlichen Kunden auf, wo er aber auch Hunde, Katzen und Kanarienvögel behandelte. Zeitweise übernahm er auch Praxisvertretungen in Hamm, Warburg und Paderborn. Außerdem führte er im Auftrag der Tierseuchenkasse insbesondere Rotlaufimpfungen durch und wurde 1927 zum stellvertretenden Schlachtvieh- und Fleischbeschauer im Kreis Höxter bestellt.

Leo Pins war Mitglied der zwischen SPD und Zentrum angesiedelten Deutschen Staatspartei und las das republikanisch orientierte „Berliner Tageblatt“, das er auch am Sabbat in die Synagoge mitnahm. Als sein Sohn ihn fragte einmal fragte, warum er dorthin gehe, wenn er doch Zeitung lese, entgegnete er: „Um die Gemeinde zusammenzuhalten.“ Aus den gleichen Gründen war er auch im Vorstand der Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, weil dieser Verein, wie er sagte, „den Antisemitismus bekämpft und nicht das Deutsche betont“.

Eng befreundet war die Familie nicht nur mit dem jüdischen Arzt Dr. Richard Frankenberg und seiner Frau Änne („Onkel Richard“ und „Tante Änne“ für die Söhne Otto und Rudi), sondern zum Beispiel auch mit dem nichtjüdischen Zahnarzt Dr. Bender und seiner Frau, und regelmäßig kamen die Familien zum Kartenspielen zusammen.

Bestellung von Dr. Pins als Fleischbeschauer, 25.7.1927 – Geschäftsanzeige von Ida Pins, 7.1.1928
Bestellung von Dr. Pins als Fleischbeschauer, 25.7.1927 – Geschäftsanzeige von Ida Pins, 7.1.1928

Im Gegensatz zu seiner Frau Ida war Leo Pins nicht religiös. Allerdings rauchte er ihr zuliebe am Sabbat nicht, obwohl er sonst gern und viel Pfeife rauchte. Er verstand sich als Deutscher jüdischer Religion, so wie andere evangelisch oder katholisch waren. Seine Bibliothek war gut bestückt, und er las gern und viel, besonders Fritz Reuter, dessen plattdeutsche Romane er besonders schätzte.

Deshalb reagierte er auf das Dritte Reich auch zunächst eher mit spitzen Bemerkungen. Einen gestorbenen Kanarienvogel kommentierte er etwa mit den Worten, „der sei wohl von der Stange gefallen, weil am Hause die Nazifahne hinge.“ Aus dem Reichsverband jüdischer Frontkämpfer, dem er als EK-Träger des Ersten Weltkriegs angehörte, trat er aus, da dies für ihn nur eine Organisation von „A…leckern“ der Nationalsozialisten war. Und er versuchte sich zu wehren. Als 1933 vor seinem Haus das Schild „Kauft nicht bei Juden“ aufgestellt wurde, versuchte er mutig, es zu entfernen. Mit dem zufällig vorbeikommenden NSDAP-Kreisleiter, einem Bruder des Nachbarn, „einigte“ man sich, dass das Schild 5 m vom Haus aufgestellt werden dürfe.

Die Schikanen und Verfolgungen nahmen jedoch zu. „Die Radioansprachen von Dr. Goebbels waren hasserfüllt, und ich spürte zu Hause beträchtliche Sorge“, wie sich der Sohn Rudi erinnerte. Schon früh ahnten Dr. Pins und seine Frau, dass es für die Juden in Deutschland und Höxter keine Sicherheit mehr gab. Dr. Pins bekam von der Tierseuchenkasse keine Aufträge mehr und verlor seine Bestellung als Schlachtvieh- und Fleischbeschauer. Im August 1934 kündigte Ida Pins die Schließung ihres Geschäfts an, entließ im Oktober ihre Angestellte, und Ende des Jahres 1934 erlosch das Geschäft.

Ankündigung der Schließung des Geschäfts, 8.6.1934
Ankündigung der Schließung des Geschäfts, 8.6.1934
Zeugnis Ida Pins’ für ihre entlassene Angestellte Sophie Böddeker, 1.12.1934
Zeugnis Ida Pins’ für ihre entlassene Angestellte Sophie Böddeker, 1.12.1934

Vor allem dachten die Eltern aber an die Rettung ihrer Kinder. Für den jüngeren Sohn Rudi, der bisher noch das KWG besuchte, erreichten sie 1934 die Aufnahme in das Kontigent von 1000 deutsch-jüdischen Kindern, die die Roosevelt-Regierung bereit war, in den USA aufzunehmen, und im November 1934 konnte Rudi Pins zu einer jüdischen Familie nach Cleveland auswandern. Dem älteren Sohn Otto (später: Jacob) war diese Möglichkeit versperrt. Er bereitete sich von Anfang 1935 bis zum August 1936 in einem Hachschara-Lager in Stettin auf die Auswanderung vor und konnte so Anfang September 1936 nach Palästina ausreisen.

Die Eltern blieben dagegen in Höxter. Nach der Schließung des Geschäfts verkauften sie 1935 ihr Haus in der Marktstr. 12, vermutlich auch um die Kosten für die Emigration der Söhne aufzubringen, und zogen im August 1935 zu der jüdischen Familie Rosenberg-Baruch in der Corveyer Allee 2. Alle Hoffnungen, ihre Söhne könnten ihnen ebenfalls die Möglichkeit zur Auswanderung in die USA oder nach Palästina schaffen, zerschlugen sich. Wie der Sohn Jacob Pins vermutete, konnten die Eltern wohl die sog. Reichsfluchtsteuer und die weiteren Kosten für eine Auswanderung nicht aufbringen, zumal das Einkommen aus der Tierarztpraxis sicher geschrumpft war.

In der Pogromnacht des 9./10. November 1938 wurde auch Dr. Leo Pins inhaftiert und für gut drei Wochen in das KZ Buchenwald verbracht, von wo er völlig abgemagert und mit schlotterndem Anzug nach Höxter zurückkehrte. Seinem Sohn Jacob, dem er die Wahrheit nicht schreiben durfte und wollte, teilte er aber nur mit: „Ich bin gestern nach 3 wöchentlicher Abwesenheit G. s. D. nach Hause zurückgekehrt. Es ist mir gut ergangen und ich bin gesund.“ Nur Ida Pins wurde etwas deutlicher: „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie froh u. glücklich ich bin, Vater wieder hier zu haben. – Wie sehr ich gejammert habe – glaubst Du nicht.“ (Brief vom 3.12.1938)

Die befreundeten Ehepaar Frankenberg (links) und Pins (rechts) im Mai/Juni 1939
Die befreundeten Ehepaar Frankenberg (links) und Pins (rechts) im Mai/Juni 1939

Als Dr. Pins Anfang 1939 wie den anderen jüdischen Tierärzten die Approbation entzogen wurde, verlegte er sich auf die Klauenpflege, um sich und seiner Frau wenigstens ein kleinen Einkommen zu verschaffen. Jedoch auch dafür musste er erst die Berechtigung einholen. Solche Schikanen hielten ihn aber nicht davon ab, sich bei der zwangsweisen Umwandlung der jüdischen Religionsgemeinschaft in einen einfachen Verein Ende 1939 als Vorstandsmitglied der neuen „Jüdischen Kultusvereinigung“ zur Verfügung zu stellen.

Bescheinigung über die Berechtigung zu Klauenpflege und Zeichnung als Vorstandsmitglied der „Jüdischen Kultusvereinigung Jüdische Gemeinde Höxter“
Bescheinigung über die Berechtigung zu Klauenpflege und Zeichnung als Vorstandsmitglied der „Jüdischen Kultusvereinigung Jüdische Gemeinde Höxter“

Am 9. Dezember 1941 wurden Dr. Leo Pins und seine Frau Ida von Höxter nach Bielefeld gebracht und dann am 13. Dezember in das Ghetto Riga deportiert, wo Ida Pins in der Kleiderkammer arbeitete, während ihr Mann in anderen Kommandos arbeiten musste. 1943 wurden die beiden der Kasernierung Reichsbahn zugeteilt. Ida Pins arbeitete in der Küche, und Leo Pins im Außendienst.

Wegen des Heranrückens der Roten Armee wurde das Rigaer Ghetto 1944 nach und nach aufgelöst. Die jüngeren Insassen wurden nach Stutthof verschleppt, während die älteren im Juli 1944 in den umliegenden Wäldern ermordet wurden, unter ihnen auch Dr. Leo und Ida Pins.

Fritz Ostkämper, 30.8.2017
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de