Jüdische Bürger in Höxter

Abtransport von Bielefeld nach Riga am 13.12.1941.
Abtransport von Bielefeld nach Riga am 13.12.1941.

Deportation und Ermordung der Höxteraner Juden

Nachdem der Albaxer Jude David Schlesinger bereits in der Pogromnacht des 9./10. November 1938 der nazistischen Verfolgung der Juden zum Opfer gefallen war, begann auch für die übrigen Juden in Höxter und den heute eingemeindeten Ortschaften der Weg in die Vernichtung. In vier Schüben wurden insgesamt 841 Juden aus der Stadt Höxter und den heute eingemeindeten Ortschaften über Bielefeld in die Ghettos, KZs und Vernichtungslager des Dritten Reiches verschleppt:
• 41 am 13. Dezember 1941 nach Riga,
• 12 am 31. März 1942 nach Warschau,
• 8 am 10. Juli 1942 nach Auschwitz und
• die letzten 23 am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt.

Nur drei der nach Riga Deportierten überlebten den Holocaust: Gustav Uhlmann aus Höxter sowie Carla Pins geb. Judenberg und Helmut Löwenstein (heute Harry Lowenstein) aus Fürstenau, und durch ihre Erinnerungen und Zeugnisse ist auch von einer Reihe anderer genauer bekannt, wann und wo sie ermordet wurden. Fast nichts Genaueres weiß man über das Schicksal und Ermordung der nach Warschau und Auschwitz Verschleppten aus Höxter, und auch nur bei einigen der nach Theresienstadt deportierten, zumeist älteren Juden aus Höxter geben die Quellen darüber Auskunft, ob sie dort starben oder zur Ermordung nach Treblinka oder oder Auschwitz verbracht wurden. Das genauere Schicksal vieler bleibt ungeklärt.

Vorbereitung der Deportation

Zeitpunkt, Anzahl der zu Deportierenden, Auswahlkriterien und Zielort der Deportation wurden vom Reichssicherheitshauptamt unter SS-Obersturmbannführer Eichmann festgelegt, die Gestapoleitstellen hatten für die Umsetzung zu sorgen. Die Stapoleitstelle Bielefeld stellte die Listen der zu Deportierenden zusammen und übergab sie mit den entsprechenden Anordnungen an die politischen Sachbearbeiter der Landratsämter und kreisfreien Städte. Den von der Gestapo instruierten Landräten und Oberbürgermeistern oblagen die Sicherstellung und Abwicklung der vermögensrechtlichen Aufgaben, die Verhaftung der Juden und die Zusammenstellung der jeweiligen Kontingente vor Ort. Der Transport in die Sammelstelle in Bielefeld wurde in der Regel von der Kriminal- und Schutzpolizei übernommen.

Der Ablauf der Deportationen war im Wesentlichen immer derselbe. Eine Zeit vor ihrem Abtransport aus Höxter bekamen die Juden den „Evakuierungsbefehl“, um sich auf ihren Abtransport vorzubereiten. Ein Informationsschreiben der Reichsvereinigung der Juden teilte ihnen außerdem mit, was sie pro Person mitnehmen durften und sollten. Jeder musste 50 RM in Reichskreditscheinen mitnehmen, denn die Fahrtkosten hatten die Deportierten selbst zu tragen. Das Gepäck war für die Deportation nach Riga auf 50 kg beschränkt und wurde bei den weiteren Deportationen auf 25 kg reduziert.2 Mitgenommen werden durften ein Koffer mit der gut sichtbaren Evakuierungsnummer, ein Rucksack und Handgepäck. Mitzunehmen waren vollständige Bekleidung und ordentliches Schuhwerk, Bettzeug, Essgeschirr mit Löffeln (keine Messer und Gabeln!) sowie Verpflegung für mehrere Tage.3 Nicht mitgenommen werden durften Wertsachen außer dem Ehering, keine Wertpapiere, Urkunden, Verträge u. ä.

Merkblatt der Reichsvereinigung der Juden für die Mitnahme bei der Deportation nach Riga
Merkblatt der Reichsvereinigung der Juden für die Mitnahme bei der Deportation nach Riga

In einem achtseitigen Fragebogen hatten sie eine neue Vermögenserklärung4 abzugeben, in der sämtliches Eigentum vom Wohnungsmobiliar, Hausrat bis hin zur Kleidung usw. detailliert aufgelistet werden musste und die auch für die Kinder auszufüllen war. Denn gemäß der eigens dazu geschaffenen 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verlor jeder Jude „mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“5 die deutsche Staatsangehörigkeit, und zugleich fiel das Vermögen beim Überschreiten der Grenze an das deutsche Reich. Nach dem Abtransport wurde das Vermögen vom Staat konfisziert, für die staatliche Verwaltung genutzt, an Parteiorganisationen abgegeben, an Wohlfahrtseinrichtungen übereignet oder im Rahmen öffentlicher Versteigerungen oder vom Handel verkauft.6

Verschenkung von Hausrat und Wertgegenständen

Alle Juden wussten, dass ihr gesamtes Eigentum nach der Deportation dem Reich zufiel, und so versuchten sie wenigstens einen Teil ihres Besitzes, auch eventuelle Sparguthaben,7 vor diesem Zugriff zu bewahren. Vor allem Geschirr, Gläser, Besteck und Hausrat verschenkten sie an Freunde, Bekannte und Nachbarn. Dr. Frankenberg brachte z. B. in der Dunkelheit einen Polstersessel zu der befreundeten Familie Bender mit den Worten: „Heinrich, in dem Sessel hast du immer beim Kartenspielen gesessen, den sollen die Bonzen nicht bekommen“. Ebenso bekamen die Freunde von ihm ein großes Eichendorff-Medaillon, das vorher im Wohnzimmer über dem Sofa gehangen hatte, und seine Frau Änne schenkte ihrer Freundin ein großes Damast-Tischtuch.8 Ein Foto mit einer Widmung des Kaisersohns Wilhelm übergab Dr. Frankenberg an den befreundeten Josef Otte, da er es „nicht mehr für gut hielt, es im Hause zu behalten.“9

Dr. Frankenberg (rechts) mit Freunden unter dem Eichendorff-Medaillon • Joachim Hoffmann Fallersleben: „Blick auf die Weser“
Dr. Frankenberg (rechts) mit Freunden unter dem Eichendorff-Medaillon • Joachim Hoffmann Fallersleben: „Blick auf die Weser“

Dr. Frankenberg bot der Stadt Höxter neben einer an der Weser gefundenen Versteinerung aus der Eozän-Zeit auch das Gemäde „Blick auf die Weser“ des Hoffmann von Fallersleben-Enkels Joachim als Geschenk an mit der „Bedingung, mich noch bis zu meiner Abreise daran erfreuen zu können“,10 das die Stadt wegen des Verbots der Annahme jüdischer Schenkungen erst später käuflich erwarb. Der Erlös sollte für wohltätige Zwecke verwandt werden.11 Einen Tag vor der Deportation nach Riga suchte Dr. Frankenberg den Bürgermeister Holle noch einmal im Rathaus auf, in dem er viele Jahre ehrenamtlich für die Bürger tätig gewesen sein, und bestätigte seine Schenkung noch einmal ausdrücklich.

Auch andere Höxteraner Juden verschenkten z. B. Silberbesteck, Gläser und Geschirr an Nachbarn. So bekam die Freundin Mathilde Arnold von ihrer Nachbarin Regina Simson nicht nur einen Satz Weingläser,12 sondern auch „ein wunderschoenes, weisses porzellan Essservice mit schlichtem Goldrand. Auf welche Weise das Geschirr in die [Westerbachstraße] Nummer Zehn gelang, das weiss ich nicht. Spaeter, zu Feiertagen wie Weihnachten und Ostern, kam es auf den Tisch, aber wo es herkam….. da sprach man nicht darueber, doch meine Mutter erzaehlte es mir einmal unter vier feuchten Augen“, wie sich Mathilde Arnolds Sohn Gunther erinnerte.13

Weingläser von Regina Simson, Teelöffel der Familie Uhlmann, vor der Deportation verschenkt an Freunde und Nachbarn
Weingläser von Regina Simson, Teelöffel der Familie Uhlmann, vor der Deportation verschenkt an Freunde und Nachbarn

Ähnliches geschah auch in den Ortschaften. In Ovenhausen verkauften die Uhlmanns vor dem Abtransport einen Teil ihres Hausstands und schenkten ihrer Nachbarin Johanna Voß z. B. ein wertvolles Teeservice aus Porzellan sowie den alten Druck eines Ölbilds des Münchner Malers Franz von Defregger, das früher als Wandschmuck oben im Flur gehangen hatte.14 Auch die Dillenbergs schenkten den Nachbarn Gläser, die noch heute in deren Besitz sind.15 Ähnlich berichten Zeitzeugen aus Ottbergen, dass die dort lebende Paula Netheim vor der Deportation große Teile ihres Hausrats an Nachbarn und sogar ein Klavier an die Familie Hanewinkel verschenkte, das später verkauft wurde.16

Oft wissen die heutigen Besitzer solcher von den Höxteraner Juden an Nachbarn und Freunde verschenkten Gegenstände vielleicht nicht, wie und warum sie in den Besitz der heutigen Familien gelangten, ob als Geschenk oder durch Kauf, und nur eher zufällig erfährt man vielleicht von einem Zeitzeugen oder einem Nachkommen, dass seine Mutter damals von einer jüdischen Familie einen großen Löffel, eine Suppenkelle oder anderes geschenkt bekam.17

Ablauf der Deportationen

Wenigr Tag vor dem Abtransport wurden die Juden von der Gestapo beim zuständigen Einwohneramt polizeilich abgemeldet.18 Bereits am Tag vor der Deportation wurden die Juden aus den Ortschaften nach Höxter gebracht und für eine Nacht bei jüdischen Familien in Höxter einquartiert,19 bevor sie vom hiesigen Bahnhof aus mit dem Zug nach Bielefeld transportiert wurden und dann die Tage bis zu ihrem Abtransport im mit Stroh ausgelegten Saal der Gaststätte Kyffhäuser am zentral gelegenen Kesselbrink, bei der Deportation nach Theresienstadt auch im Gesellschaftshaus Eintracht in der Ritterstraße verbringen mussten, wo sie mit anderen Juden aus Ostwestfalen die Tage bis zum Abtransport zusammengepfercht wurden.20 Dort wurden sie erneut registriert, ihr Gepäck wurde durchsucht, Wertgegenstände wurden ihnen weggenommen, und Finanzbeamte überprüften die Vermögenserklärung usw., bis sie dann ein oder zwei Tage später mit Sonderzügen von je etwa 1000 Juden in die verschiedenen Ghettos oder Konzentrationslager transportiert wurden.21

Im Saal der Gaststätte „Kyffhäuser“ vor dem Abtransport nach Riga
Im Saal der Gaststätte „Kyffhäuser“ vor dem Abtransport nach Riga

Mit der Reichsbahn war der für Reisesonderzüge mit mindestens 400 Personen übliche Fahrpreis von zwei Reichspfennig je Kilometer vereinbart, der später auch für die Beförderung mit Güterzügen galt.22 Vom Sammellager in Bielefeld wurden die Juden per Bus oder per Straßenbahn zum Bahnhof transportiert. Während der erste Abtransport von Bielefeld nach Riga noch mit alten Personenwagen dritter Klasse vom Hauptbahnhof erfolgte, wurden die Juden bei den weiteren Deportationen an der Viehrampe des Güterbahnhofs in Viehwaggons verladen, die sie in das für sie bestimmte Lager brachten.23

Anmerkungen

1 Außer dem in der Pogromnacht 1938 ermordeten David Schlesinger und den 84 nach Osten deportierten Juden wurde auch der evangelisch verheiratete Jakob Cohn, der nach der Ausbombung aus Essen mit seiner Familie in Lüchtringen lebte, ein Opfer des Holocaust. Er wurde 1944 in das Arbeitslager Lahde verschleppt und dort am 19. Juli 1944 ermordet wurde.
2 Vgl. etwa die Richtlinien des Reichssciherheitshauptamts für die Deportation nach Theresienstadt vom 15.5.1942. Mitzunehmen waren danach: Zahlungsmittel 50 RM für die Fahrtkosten, ein Koffer oder Rucksack (kein sperrendes Gut), vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk), Bettzeug mit Decke, Essgeschirr (Teller oder Topf) mit Löffel, Verpflegung für 8 Tage.
3 Dr. Frankenberg ließ sich Fleisch für die Mitnahme räuchern, wie Charly Kraft aus Erinnerungen seiner Familie berichtet.
4 Bereits zum 30. Juni 1938 hatten alle diejenigen Juden eine Vermögenserklärung abgeben müssen, deren Vermögen über 5.000 RM lag. Alle Juden mussten vor der Deportation detaillierte Listen ihres Vermögens aufstellen, die den Finanzbehörden danach als Grundlage für Verkauf und Versteigerung des jüdischen Egentums dienten. Auch für die Kinder waren eigene Erklärungen auszufüllen.
5 Verordnung vom 25.11.1941.
6 Zu den Versteigerungen des übrigen Hausrats und des sonstigen Besitzes siehe später.
7 Die am 31.7.1942 nach Theresienstadt deportierte Kathi Rosenberg übergab ein Sparbuch mit 1730 RM an den befreundeten Heinrich Grothe, der es treuhänderisch aufbewahrte und 1948 an die Erben zurückgab. (Original im Archiv der Jacob Pins Gesellschaft)
8 Mitgeteilt von Charly Kraft.
9 Das Foto wurde von Josef Otte 1982 dem Stadtarchiv Höxter übergeben. StA Hx, unverzeichnet.
10 „Ich selbst habe diese Bild als Andenken an meinen Freund Jochen Hoffmann immer ganz besonders geschätzt und hoffte, es einmal als ein Stück Heimat mit in die Fremde nehmen zu können. Das wird nicht möglich sein. Ebenso unmöglich ist es mir aber, das Bild, welches ich […] als Geschenk erhalten habe, zu verkaufen. Ich bitte Sie deshalb, Herr Bürgermeister, das Bild von mir als Geschenk für die Stadt Höxter annehmen zu wollen mit der Bedingung, mich noch bis zu meiner Abreise daran erfreuen zu können und es mir bis dahin zu belassen.“ Brief von Dr. Richard Frankenberg,, StA Hx, unverzeichnet.
11 Das Bild hängt heute im Zimmer des Bürgermeisters.
12 Mathilde Arnolds Sohn Gunther hat vier Weingläser aus dem Besitz Regina Simsons inzwischen dem Forum Jacob Pins übergeben.
13 Der nach dem Krieg nach Kanada ausgewanderte Gunther Arnold, E-Mail vom 6.1.2016.
14 Die Nachkommen der Familie Voß übergaben das Teeservice und das Wandbild 2008 an das Freilichtmuseum in Detmold, wo sie in dem dort wiederaufgebauten Haus Uhlmann heute einen Ehrenplatz haben. Neue Westfälische, 8.5.2008 u. a. – Auch ein im Geschäft Uhlmann gekauftes Kaffeeservice gehört heute dort zu den Erinnerungstücken,
15 Mitschke-Buchholz, S. 93
16 Aussage von Frau Hanewinkel beim Besuch des Netheim-Verwandten Allan T. Mendels im Juli 2013.
17 Erinnerung von Ernst Labrenz.
18 Die Abmeldung in den Ortschaften geschah in der Regel früher als in der Stadt Höxter.
19 Das galt anscheinend zumindest für die Juden aus dem weiter entfernten Dorf Fürstenau. Der von dort deportierte Helmut Löwenstein (Harry Lowenstein) erinnert sich, dass er mit seiner Schwester und seinen Eltern die Nacht vor dem Abtransport aus Höxter im Haus des Höxteraner Arztes Dr. Richard Frankenberg verbrachte. E-Mail an dessen Großneffen Louis Frankenberg in São Paulo, 19.11.2018. – Juden aus Ottbergen bestiegen den Zug am dortigen Bahnhof (Erinnerung von Fritz Wiesemann).
20 Zu den elenden Bedingungen der Unterbringung im Saal des „Kyffhäuser“ siehe im Teil über die Deportation nach Riga.
21 Während für den Transport der Juden zum Bielefelder Hauptbahnhof zunächst Busse und Straßenbahnen eingesetzt wurden, wurden die Juden später vom Güterbahnhof abtransportiertund mussten den Weg dorthin zum Teil auch zu Fuß antreten.
22 Vgl. hierzu genauer Meynert/Mitschke, S. 14 ff.
23 Vgl. Meynert-/Mitschke, S. 17.