31. März 1942: Deportationsziel Warschau
Mit der Abschiebung der 41 Juden nach Riga hatten die Juden in Höxter und den Ortschaften fast die Hälfte ihrer Glaubensgenossen verloren, und auch den Zurückgebliebenen blieben nur noch wenige Monate, bis auch die zweite Gruppe von zwölf Juden aus Höxter den Wege nach ‚Osten‘, antreten musste, wie es jetzt auf den Meldekarten hieß.1 Tatsächlich war das Deportationsziel für sie das Warschauer Ghetto im hauptsächlich von Juden bewohnte Viertel westlich der Warschauer Altstadt.
Seit Mai 1940 war dieser Bezirk als „Seuchensperrgebiet“ mit einer 3 Meter hohen Mauer und 18 Kilometer langen Mauer vom übrigen Stadtgebiet abgetrennt. Die deutschen Besatzer hatten 80.000 Polen aus ihren Wohnungen vertrieben und statt ihrer mehr als 90.000 Juden aus dem polnischen Westen in das Ghetto verschleppt, wo mit den aus Deutschland Deportierten schließlich ca. 400.000 Juden dahinvegetieren mussten. Vor allem die Armen, Alten und Kinder waren zum Sterben verurteilt, und Erschießungen wegen kleiner Verstöße waren alltäglich. Jeden Monat starben etwa 5.000 Menschen.
Auch zwölf Höxteraner Jüdinnen und Juden mittleren Alters wurden nach Warschau deportiert: der ehemalige Kaufhausinhaber Ernst Löwenstein mit seiner Frau Gertrud und seinem dreieinhalbjährigen Sohn Berl-Eli, die vierköpfige Familie Stamm-Isaak2 und die ledigen Geschwister Max und Karoline Dillenberg aus Ovenhausen, weiterhin die verwitwete Hedwig Ahron und die geschiedene Karoline Beyerlein aus Höxter sowie die ledige Minna Schlesinger aus Albaxen. Laut einem sogenannten „Reiseplan“ waren eigentlich 17 Juden aus der Stadt Höxter und den Ortschaften Abaxen, Ovenhausen und Ottbergen für den „Abtransport“ vorgesehen, jedoch wurde die Anzahl aus unbekannten Gründen auf zwölf reduziert.3
Mitte März 1942 erhielten diese zwölf Höxteraner Juden die Aufforderung, sich auf ihren Abtransport vorzubereiten, das hieß, ihr Vermögensverzeichnis auf den aktuellen Stand zu bringen, ihr jetzt auf 25 kg begrenztes Gepäck zu packen, die Wohnung zu übergeben und sich nach ihrer polizeilichen Abmeldung4 durch die Gestapo am 30. März frühmorgens für den Abtransport am Höxteraner Bahnhof einzufinden, von wo sie um 6.41 Uhr abtransportiert wurden. Über 60 weitere Juden mussten den Zug auf dem Weg nach Bielefeld besteigen,5 wo der Transport gegen 10 Uhr ankam und wo die Juden den restlichen Tag und die folgende Nacht bis zum Abtransport nach Warschau unter erbärmlichen Bedingungen in dem wiederum als Auffanglager dienenden Saal der Gaststätte Kyffhäuser am Kesselbrink zubringen mussten.
Der in Gelsenkirchen eingesetzte Transportzug der Reichsbahn mit etwa 75 Juden traf am Nachmittag des 31. März am Güterbahnhof in Bielefeld ein, wo die Höxteraner Juden zusammen mit etwa 325 anderen Juden aus Ostwestfalen die Viehwaggons besteigen mussten. Wegen eines Maschinenschadens kam es zu einen mehrstündigen Aufenthalt in Hameln, so dass der Zug erst gegen Mitternacht Hannover erreichte, wo weitere 491 Juden zusteigen mussten. Bei einem Zwischenhalt in Braunschweig am frühen Morgen des 1. April kamen weitere 109 Menschen hinzu, so dass der Zug mit den knapp 1000 Deportierten schließlich am Morgen des 2. April Warschau erreichte,6 wo sie in das dortige Ghetto gebracht wurden.
Das Warschauer Ghetto war das größte von den Nationalsozialisten eingerichtete Sammellager für Juden in Europa und war als Durchganglager für die Deportationen in das Vernichtunslager Treblinka Teil der organisierten Massenvernichtung, der Shoah. Es war mit einer 18 Kilometer langen und 3 Meter hohen Mauer abgeriegelt und war im März 1942 bereits mit etwa 480.000 Juden belegt, sieben bis acht Personen in einem Zimmer.
Auch die Juden aus Westfalen mussten dort einen Platz finden. Die Bewohner des Ghettos mussten in etwa 50 Privatunternehmen und in ghettoeigenen Betrieben Zwangsarbeit leisten. Um die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln zu verbessern, versuchten viele Menschen, Waren über die Mauer zu schmuggeln, denn für sie war dies die einzige Möglichkeit zu überleben. Das tägliche Leben im Ghetto war extrem beengt und bestimmt von Überwachung und Terror, von Hunger und Epidemien. Circa 100.000 Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, starben schon vor dem Beginn der ab Juli 1942 einsetzenden Deportationen in die Vernichtungslager.
Über das Schicksal der zwölf Höxteraner Juden in Warschau gibt es fast keine Informationen. Zwar konnten sie vermutlich in sehr beschränktem Umfang noch einen Kontakt zu den zurückgebliebenen Freunden und Verwandten in der Heimat unterhalten, wie man von anderen Deportierten weiß.7 Aber nur von der Höxteranerin Minna Schlesingers ist bekannt, dass eine Grußkarte von ihr die Bekannten oder Freunde in ihrem Heimatort Albaxen erreichte.8 Außerdem kam es auch einmal zu einer Begegnung, wie ein ehemaliger Albaxer mitteilte: „Minna Schlesinger wurde das letzte Mal von Josef Timmermann aus Albaxen (er war Soldat im Osten gewesen) bei Arbeiten an einer Bahnstrecke in der Nähe von Lemberg gesehen. Josef Timmermann hatte sich mit meinem Vater noch während des Dritten Reiches bei einem Heimaturlaub darüber unterhalten. Wie Josef Timmermann meinem Vater erzählte, hatte er sich nicht getraut, Frau Schlesinger anzusprechen.“9 Möglicherweise kann man daraus schließen, dass Minna Schlesinger aus dem Warschauer Ghetto in das Ghetto in Lemberg (Lwiw) verbracht wurde. Weitere Informationen über sie fehlen jedoch, ebenso wie über Ort und Zeit der Ermordung der anderen Höxteraner.
Auf einen Befehl Himmlers begann im Juli 1942 die Deportation der im Warschauer Ghetto dahinvegetierenden Juden nach Treblinka und dann auch nach Auschwitz, der etwa 280.000 Juden zum Opfer fielen. Ob auch die vielleicht noch im Ghetto überlebenden Höxteraner Juden unter ihnen waren oder ob sie während der Niederschlagung des Aufstands des Warschauer Ghettos im April/Mai 1943 ermordet wurden, ist nicht bekannt. Nur von dem nach Warschau deportierten Viehhändler Max Dillenberg aus Ovenhausen ist belegt, dass er 1943 in Auschwitz ermordet wurde.
Anmerkungen
1 Vermerk auf den Karteikarten des Einwohnermeldeamts: „abgemeldet nach Osten, Ziel unbekannt“.
2 Der nach dem Abtransport seiner Kinder allein in Ovenhausen zurückgebliebeme 76-jährige Alteisenhändler Bernhard Stamm zog für die folgenden Monate zu dem Viehhändler 78-jährigen Meier Bachmann und seiner Frau Emma nach Fürstenau, mit denen er vier Monate später nach Theresienstadt deportiert wurde.
3 Die vier für die Deportation nach Warschau vorgesehenen Angehörigen der Familie Netheim aus Ottbergen wurden aus unbekannten Gründen erst im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert. Die sicher ebenfalls für den Abtransport nach Warschau bestimmte Karoline Dillenberg aus Ovenhausen starb zwei Wochen vor der „Abreise“ und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Ovenhausen begraben.
4 Abmeldung aus Höxter und aus Ovenhausen laut Meldekartei am 28.3.1942, aus Albaxen am 30.3.1942.
5 Laut ‚Reiseplan‘ sollte der Zug in Ottbergen, Brakel, Driburg, Steinheim und Bergheim, wo jeweils weitere Juden zusteigen sollten. Jedoch wurden die vier Juden aus Ottbergen aus unbekannten Gründen erst am 8.7.1942 nach Auschwitz deportiert
6 Vgl. http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_wfn_420331.html.
7 Die mit ihrem aus Fürstenau verzogenen Mann Ernst Dillenberg Grete, geb. Levi erwähnt in den Briefen an ihren Bruder Kurt und seine Verlobte Sofie Aussen wiederholt Briefe ihrer Geschwister Robert und Hilde, die sie bis gegen Ende 1942 in ihrem damaligen Wohnort Siekholz erreichten (siehe Kopien der Briefe im Forum Jacob Pins). Auch Decker/Hollen berichten von „zahlreichen Postkarten aus dem Warschauer Ghetto […] an die noch nicht deportierten jüdischen Menschen“ (Ravensberger Blätter, Heft 1, 2010, S. 11)-
8 Quelle???
9 E-Mail von Matthias Rabbe, 5.2.2017.