Jüdische Bürger in Höxter

Eingangsgebäude des Konzentrationslagers Auschwitz
Eingangsgebäude des Konzentrationslagers Auschwitz

11. Juli 1942: Deportationsziel Auschwitz

Noch bis viele Jahrzehnte nach dem Krieg war fast nichts über diese dritte Deportation aus Höxter bekannt, mit der am 11. Juli 1942 eine Gruppe von acht Juden, vier aus der Stadt Höxter und vier aus Ottbergen, in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden. Lange Zeit war das Ziel dieses Deportationstransports ungeklärt, und neben Warschau wurden auch Theresienstadt, Minsk und Trostinez als Zielort vermutet.

Der Transport unterlag anscheinend besonderen Geheimhaltungsvorkehrungen, weil er anders als die vorangehenden Transporte nicht in ein Ghetto, sondern direkt in ein Vernichtungslager führte.1 Wohl deshalb wurden auch die Reichsvereinigung der Juden und sogar die mit der Vermögensverwaltung und -verwertung beauftragten Finanzbehörden über den genauen Zielort im Unklaren gelassen.2

Erst durch zahlreiche Recherchen3 konnte schließlich mit großer Sicherheit ermittelt werden, dass insgesamt etwa 700 Juden aus verschiedenen Gestapobezirken mit diesem Sammeltransport zur Ermordung nach Auschwitz deportiert wurden, unter ihnen auch acht Juden aus Höxter: vier Angehörige der Familie Netheim aus der Ortschaft Ottbergen und aus der Stadt Höxter die Schwestern Margarete Frankenberg und Olga Mühlfelder geb. Frankenberg, ihre Schwägerin Kathi Rosenberg und die unverheiratete Frieda Ransenberg, alle bis auf letztere etwa 60 Jahre alt. Auch für sie alle galt lange Zeit Theresienstadt als Deportationsort, bis er schließlich in Auschwitz korrigiert werden konnte.4

Anders als die zuvor nach Riga und Warschau Deportierten erhielten sie erst wenige Tage zuvor den Befehl, sich zum Abtransport bereit zu machen.5 Zum 8. Juli 1942 wurden sie von der Gestapo polizeilich abgemeldet und am selben Tag mit dem Zug abtransportiert. Der damals 13-jährige Fritz Wiesemann erinnerte sich, wie die vier Ottberger Juden dort in den Zug einsteigen mussten: „Am 8. Juli 1942, einem Mittwoch, werden die Jüdinnen Ida Netheim-Marchand genannt ‚Schönbach‘, aus der Brakeler Straße 8 und Paula Netheim, geb. am 10.5.1881, aus der Nethestraße 4 und vermutlich auch ihre Schwester Beatha (Athchen), geb. am 30.10.1875, in den Osten deportiert. Ich selbst sah den Personenzug mit alten preußischen Personenwagen, in den die Juden einsteigen mussten, auf dem zweiten oder dritten nördlichen Gleis des Ottberger Bahnhofs. Ich kam an dem Mittag mit dem Zug vom König-Wilhelm-Gymnasium aus Höxter. Der alte reaktivierte Polizist Körner stand auf dem Bahnsteig und überwachte die Aktion. Im Dorf ging das Gerücht um, die Juden kämen zusammen nach Theresienstadt.“6

Das KZ Auschwitz mit dem Stammlager Auschwitz I, dem Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) und dem Buna-Werk der IG Farben (Auschwitz III)
Das KZ Auschwitz mit dem Stammlager Auschwitz I, dem Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) und dem Buna-Werk der IG Farben (Auschwitz III)

Wie bei den vorangehenden Deportation wurden die Höxteraner und Ottberger Juden mit den anderen unterwegs Zugesteigenden aus Ostwestfalen zunächst in das Auffanglager in der Gaststätte Kyffhäuser in Bielefeld transportiert, wo sie die Zeit bis zum Weitertransport zubrachten, bevor sie mit gut 100 anderen Unglücklichen7 am 10. Juli 1942 am dortigen Güterbahnhof die Viehwaggons des Zugs besteigen mussten. Die Fahrt des Sammelzugs ging zunächst nach Hamburg, wo am folgenden Tag etwa 300 Juden zusteigen mussten. In Ludwigslust (Mecklenburg) hatte die Gestapo weitere 300 Juden aus den Bereichen Braunschweig, Mecklenburg, Pommern und Brandenburg zusammengeführt, die dort in den Zug gebracht wurden, der dann nach Berlin fuhr, wo weitere 200 Juden einsteigen mussten. Auf der Weiterfahrt (die Haltebahnhöfe sind nicht gesichert) sammelte der Zug in Anhalt und Sachsen weitere Juden ein8 und brachte die Deportierten nach Auschwitz, wo der Zug am 13. Juli ankam.

Ankunft in Auschwitz • Selektion an der „Todesrampe“
Ankunft in Auschwitz • Selektion an der „Todesrampe“

Über das Schicksal der etwa 700 aus Westfalen, Norddeutschland und den östlichen Gebieten Deutschlands deportierten Juden gibt es keine weiteren Informationnen, denn sie erhielten in Auschwitz keine Häftlingsnummern und wurden nicht in entsprechenden Listen verzeichnet.9 Ob einzelne von ihnen vielleicht noch für eine kurze Zeit bei Firmen und Werkstätten zur Arbeit eingesetzt wurden, ist unbekannt. Wahrscheinlicher ist aber, dass alle oder die meisten von ihnen bereits unmittelbar nach der Einlieferung in Auschwitz selektiert und ermordet wurden, darunter auch die acht Höxteraner, die fast alle 60 Jahre oder älter und dazu bis auf Julius Netheim Frauen waren und deshalb nicht mehr zu schwereren Arbeiten eingesetzt werden konnten.

Anmerkungen

1 Abgesehen von den im Mai und Juni 1942 erfolgten Deportationen aus Oberschlesien.
2 Vgl. http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_nwd_420711.html
3 Martin Decker/Kai-Uwe von Hollen, „Montag werden wir, wenn’s gut geht, am Ziel sein“. Die Deportation aus dem Gestapobezirk Bielefeld am 10. Juli 1942. Ravensberger Blätter, Heft 1, S. 1-25.
4 Während die Ottberger Juden dort zum 8. Juli 1942 von der Gestapo polizeilich abgemeldet wurden, unterblieb die Abmeldung in Höxter zu diesem Datum und wurde erst am 1. August 1942 bei der Deportation der letzten Höxteraner Juden vnach Theresienstadt nachgeholt. In den Theresienstädter Dokumenten erscheinen sie jedoch nicht. – Für den aus Ottbergen deportierten Julius Louis Netheim nennt das „Gedenkbuch“ irrtümlich Theresienstadt als Deportations- und Sterbeort. Dabei handelt es sich jedoch sicher um eine Vermischung mit dem in Lemgo geborenen Julius Netheim, der von Berlin nach Theresienstadt deportiert wurde. Das „Gedenkbuch“ hat diese Korrektur allerdings unter Berufung auf die spätere Todeserklärung bisher nicht übernommen.
5 Vgl. Decker/Hollen (wie Anm. 3), S. 3.
6 Die Erinnerungen Fritz Wiesemanns sind ungenau. Die ältere Beate Kugelmann, geb. Netheim wurde tatsächlich erst am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Den erst im März 1940 aus Norden nach Ottbergen vertriebenen Viehhändler Julius Netheim und seine Frau Anna hatte Wiesemann offenbar in den wenigen Wochen ihres Aufenthalts in Ottbergen nicht mehr kennen gelernt, da sie sich kaum noch auf der Straße zeigen konnten.
7 Darunter auch einzelne aus den Gestapobereichen Münster und Osnabrück.
8 Genauer siehe in dem genannten Aufsatz von Decker/Hollen.
9 Vgl. den genannten Aufsatz von Decker/Hollen.

Fritz Ostkämper, 4.10.2024
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de