Jüdische Bürger in Höxter

Ankunft im Ghetto Theresienstadt
Ankunft im Ghetto Theresienstadt

31. Juli 1942: Deportationsziel Theresienstadt

Nach der Deportation der meisten Höxteraner Jüdinnen und Juden nach Riga, Warschau und Auschwitz waren nur noch 23 Juden in Höxter zurückgeblieben, 16 Frauen und sieben Männer, zumeist über 65 Jahre alt und daher für die Zwangsarbeit in den Ghettos und Lagern des Ostens ‚unbrauchbar‘. Während die fünf Fürstenauer1 und die allein in Ottbergen zurückgebliebene Beate Kugelmann bis zur Deportation in ihren Wohnungen bleiben konnten, wurden die 17 Juden in der Stadt auf drei „Judenhäuser“ bzw. „–wohnungen“ ‚konzentriert‘: die ehemalige Lehrerwohnung und die geschändete Synagoge an der Nagelschmiedstraße 8, das Obergeschoss des ehemaligen Hauses Kaufmann in der Marktstraße 27 und eine Wohnung im ehemaligen Haus des Baustoff-, Landprodukte- und Kohlenhändlers Rosenberg in der Corveyer Allee 2.

Fast nichts ist darüber bekannt, wie sie die wenigen Monate fristeten, die ihnen nach der Deportation ihrer Verwandten und Glaubensgenossen noch blieben. Auf den Straßen durften sie sich außer bei seltenen Einkäufen nicht mehr sehen lassen und mussten sicher vor allem von ihren Vorräten leben. Allerdings erinnerte sich eine Höxteranerin, dass ihr Vater sich verkleidet mit Hut und Mantel nachts durch die Gärten hinter den Häusern zum Haus der Familie Kaufmann schlich, um den dort Eingeschlossenen Nahrungsmittel zu bringen.2 Ähnliche Unterstützung erfuhren wohl auch andere Juden, Einzelheiten sind aber nicht bekannt.

Jedoch waren auch die Tage dieser letzten Höxteraner Juden gezählt. Mit Schreiben vom 20. Juli 1942 erteilte die Gestapo Bielefeld den Landräten und Oberbürgermeistern in Ostwestfalen die Anordnung zur Vorbereitung der Deportation: „Am 31.7.42 werden aus dem Bezirk der Staatspolizeileitstelle Münster 925 Juden nach Theresienstadt abgeschoben. Aus dem Bezirk der Aussendienststelle Bielefeld (Reg. Bez. Minden und die Länder Lippe und Schaumburg-Lippe) sind für diesen Abtransport 625 Juden zu stellen… Die aus den Ländern Lippe, Schaumburg-Lippe, den Landkreisen Lübbecke, Minden, Paderborn, Büren, Höxter und Warburg zur Abschiebung bestimmten Juden sind am 28.7.42 in ihren Wohnungen abzuholen und am gleichen Tage bis spätestens 16 Uhr in Bielefeld im Kyffhäuser (Am Kesselbrink) abzuliefern. Die aus den Kreispolizeibezirken Bielefeld Stadt, Bielefeld Land, Herford Stadt, Herford Land, Halle und Wiedenbrück sind am 29.7.42 in ihren Wohnungen abzuholen und am gleichen Tage bis spätestens 13 Uhr in Bielefeld in der Eintracht, Grosser Saal, Ritterstr. 37, abzuliefern.“3

„Reiseplan“ für die Deportation nach Theresienstadt
„Reiseplan“ für die Deportation nach Theresienstadt

Die 23 noch in Höxter verbliebenen Juden4 bekamen daraufhin den Befehl, sich für die Abschiebung fertig zu machen, ihre Vermögenserklärung bereitzuhalten, ihr auf 25 kg begrenztes Gepäck zu packen, die Wohnung für die Übergabe vorzubereiten usw. und sich am Morgen des 28. Juli am Bahnhof einzufinden, von wo der Zug um 9.23 Uhr abfuhr. In Ottbergen musste auch die noch dort wohnende Beate Kugelmann einsteigen, und bei weiteren Zwischenhalten mussten Juden aus weiteren Orten zusteigen,5 bis der Zug in dem wiederum als Übergangslager dienenden Kyffhäuser am Kesselbrink in Bielefeld ankam. Gestapobeamte kontrollierten mit Listen die Anwesenheit und verließen den Saal, wo auch die Höxteraner Juden mit etwa 450 anderen Juden aus Ostwestfalen auf Bänken oder dem Boden liegend oder auf den Stühlen hockend die folgenden Tage und Nächte verbringen mussten. Versorgt wurden die Inhaftierten von Bielefelder Juden, die auf Anweisung der Gestapo Eintopfgerichte und Getränke verteilten.6

Am 31. Juli wurden die 590 Juden aus Bielefeld und Ostwestfalen mit Straßenbahnen vom Kesselbrink zum Bielefelder Güterbahnhof gebracht, wo sie den bereits mit 310 Juden aus Gelsenkirchen, Münster und Osnabrück besetzten Zug besteigen mussten, mit dem sie am folgenden Tag in Theresienstadt ankamen. Von der langen Fahrt in den Viehwaggons erschöpft, wurden die alten und oft kranken Juden am 1. August 1942 auf dem Bahnhof in Bohušovice (Bauschowitz) ‚entladen‘, der das Ghetto in Theresienstadt ,bediente‘. Von SS-Männern angebrüllt mussten sie sich mit ihrem armseligen Hab und Gut auf den 2,5 km langen Marsch ins Ghetto machen, manche gestützt auf ihre Krücken. Nur die Kranken und Gebrechlichen wurden auf LKWs transportiert.

Das Ghetto/Konzentrationslager Theresienstadt

Das Ende des 18. Jahrhunderts als „Garnisonsstadt“ erbaute Theresienstadt war seit 1941 als Durchgangslager für die Juden aus Böhmen und Mähren eingerichtet worden, während die „Kleine Festung“ seit 1940 als Gestapo-Gefängnis diente. Ab 1942 wurden auch prominente, verdiente und alte Juden aus Deutschland und den besetzten Gebieten nach Theresienstadt eingeliefert, denen man durch aufgedrängte sogenannte „Heimeinkaufsverträge“ ihr Bankvermögen abgenommen und ihnen versprochen hatte, sie würden dort einen sicheren Ort für ihren Lebnsabend finden. Vielleicht hatten auch manche der ostwestfälischen Juden solche Illusionen über das von der NS-Propaganda zum „Altersghetto“ verklärte Ghetto, jedoch auch für sie war Theresienstadt nur ein Durchgangslager auf dem Weg in die Vernichtung.

Gesamtplan von Theresienstadt • Das Ghetto in den ehemaligen Kasernengebäuden
Gesamtplan von Theresienstadt • Das Ghetto in den ehemaligen Kasernengebäuden

In Theresienstadt, wo vor dem Krieg einschließlich der Garnisonsmannschaften etwa 7.500 Menschen gelebt hatten, wurden sie auf die bereits überfüllten Wohnblocks verteilt. Die Vorstellungskraft reicht nicht aus auch nur zu ahnen, was es bedeutete, dass die Einwohnerschaft durch die Deportationen innerhalb weniger Wochen von Anfang Juni bis Ende Juli 1942 von 13.000 auf 43.000 anwuchs und im September mit 58.000 Insassen ihren höchsten Stand erreichte. Unter katastrophalen hygienischen Bedingen mussten jetzt acht Personen auf dem Raum leben, der für eine Person gebaut war. Für jeden blieben nur 1,65 qm. Die Menschen schliefen auf dicht gestellten, 65 cm breiten dreistöckigen Pritschen mit einer Zwischenhöhe von 80 cm oder ohne Matratzen auf dem nackten Fußboden der Dachböden, geplagt von Wanzen, Läusen, Flöhen – und natürlich Ratten, die zur Verbreitung von Krankheiten beitrugen.

Marsch vom Bahnhof zum Ghetto • Warnschild
Marsch vom Bahnhof zum Ghetto • Warnschild
Bei der Essensausgabe • Schlafplätze auf dem nackten Dachboden
Bei der Essensausgabe • Schlafplätze auf dem nackten Dachboden

Dazu kam die dauerhafte Unterernährung nicht nur durch die unzureichenden Mengen der zugeteilten Lebensmittel, sondern auch durch den viel zu niedrigen Nährstoffgehalt und einen Mangel an Vitaminen. Zudem war das Essen zumeist kalt, denn die Häftlinge mussten lange in Schlangen anstehen, bis sie endlich ihre Ration erhielten. „Die Menschen starben wie die Fliegen”, wie die damals 15-jährige Karla Raveh aus Lemgo berichtete.7 Auch für die angeblich bevorzugten „schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen” sowie für die Tausende anderen alten und gebrechliche Menschen war Theresienstadt die Durchgangsstation in ein Vernichtungslager, wenn sie nicht bereits unter den elenden Bedingungen des Ghetto starben.

Die Ermordung der Höxteraner Juden

Auch sechs der 23 alten Höxteraner Jüdinnen und Juden starben schon 1942 in Theresienstadt, nach nicht einmal zwei Wochen die 81-jährige Rosa Schönfeld und vier Tage später die 82-jährige Bertha Katz. Auch Selig Ransenberg (81), Pauline Leopold (91), Berta Kaufmann (77) und Beate Kugelmann (67) kamen bis Ende 1942 in Theresienstadt um. Als Todesursache wurde zumeist einfach Pneumonia/Lungenentzügung oder Marasmus/Alterschwäche angegeben. Aber auch den anderen blieb nur noch wenige Zeit.

Todesfallanzeigen für Selig Ransenberg und Berta Kaufmann in Theresienstadt, bei der auch ihre ebenfalls nach Theresienstadt deportierten Geschwister Salli, Lina und Henriette aufgeführt sind
Todesfallanzeigen für Selig Ransenberg und Berta Kaufmann in Theresienstadt, bei der auch ihre ebenfalls nach Theresienstadt deportierten Geschwister Salli, Lina und Henriette aufgeführt sind

Elf Juden aus Höxter wurden nach sieben Wochen in Theresienstadt im Sept. 1942 in das Vernichtungslager Treblinka transportiert: am 23. September die Ehepaare Emma und Meier Bachmann (65, 75), Hedwig und Gustav Frank (67, 72), Goldine und Samuel Wolff (69, 72), die verwitweten Karoline Goldschmidt (72), Eugenie Hochheimer (72), Bertha Rothenberg (68) und der 85-jährige Markus Judenberg sowie drei Tage später die unverheiratete Lina Rosenberg (76).

Je etwa 2000 Juden wurden am Bahnhof in Bohušovice auf Güterwaggons verladen, von wo sie der Zug zwei Tage später nach Treblinka brachte. Auf LKWs wurden sie vom Bahnhof zum etwa 4 km entfernten Lager gebracht. Dort wurden sie von den Ladeflächen getrieben, mussten sich nackt ausziehen und wurden durch den „Schlauch“ ins „Badehaus“ getrieben, wo sie binnen 15 Minuten im Gas erstickt wurden.8

Ein damaliger jüdischer Angehöriger des Arbeitskommandos beim Nürnberger Prozess berichtete über die Ankunft in Treblinka: „Ich stand damals auf dem Bahnsteig, als die Leute aus den Waggons geführt wurden. Eine ältere Frau trat auf Kurt Franz [Stellvertreter des Lagerkommandanten] zu, zog einen Ausweis hervor und […] bat, man solle sie zu einer leichten Büroarbeit verwenden. Franz sah sich den Ausweis gründlich an […], führte sie zum Fahrplan und sagte, daß in zwei Stunden ein Zug […] zurückgehe. Sie könne alle ihre Wertgegenstände und Dokumente hierlassen, ins Badehaus gehen, und nach dem Bad würden ihre Dokumente und ihr Fahrschein für sie […] zur Verfügung stehen. Natürlich ist die Frau ins Badehaus gegangen, von wo sie niemals mehr zurückkehrte.“9 Ebenso war auch das Schicksal der nach Treblinka verschleppten Juden aus Höxter.

Anfang 1943 lebten nur noch sechs zumeist jüngere Höxteraner Juden in Theresienstadt. Jole Rosenstein (56) wurde am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert. Bernhard Stamm (77) und Minna Löwenstein (74) starben im Verlauf des Jahres in Theresienstadt. Der ehemalige Höxteraner Synagogenvorsteher Paul Netheim (56) und seine Frau Sophie (47) wurden im Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert (vielleicht hatte er als ehemaliger Gemeindevorsteher bis dahin im Ghetto eine besondere Rolle übernommen?). Die ehemalige Hauswirtschafterin Karoline Böhm (71) überlebte noch gut zwei Jahre, bis auch sie im Dezember 1944 in Theresienstadt starb.

Über keine(n) der 23 aus Höxter, Fürstenau und Ottbergen nach Theresienstadt deportierten Jüdinnen und Juden gibt es weitere Informationen. Keine der vielleicht aus dem Ghetto geschriebenen Postkarten erreichte Bekannte in Höxter, und auch keine Berichte über das ‚Leben‘ dieser 23 Höxteraner Juden in Theresienstadt und über ihre Ermordung in Theresienstadt, Treblinka und Auschwitz sind überliefert. Geblieben sind nur die Akten.

Anmerkungen

1 Der 76-jährige Alteisenhändler Bernhard Stamm war nach der Deportation seiner Angehörigen aus Ovenhausen zu der Familie Meier und Emma Bachmann nach Fürstenau gezogen.
2 Information der Tochter Frau B.
3 https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_wfn_420731.html.
4 Dazu kam der 84-jährige Aron Kleinstrass aus Bredenborn, der ebenfalls vom Höxteraner Bahnhof nach Theresienstadt deportiert wurde.
5 Vgl. „Reiseplan“. Die polizeiliche Abmeldung nahm wie üblich die Gestapo vor, in Ottbergen zum 8.7.1942, in Höxter nachträglich zum 28.7.1942; entsprechende Eintragungen auf den Meldekarten in Fürstenau fehlen.
6 Erinnerungen Karla Frenkel ……
7 Aussage der damals 15-jährigen Karla Raveh aus Lemgo, die die Deportation überlebte.
8 Vgl. https://www.holocaust.cz/de/geschichte/nazistische-konzentrationslager-und-ghettos/vernichtungslager/treblinka-2/
9 Gottwald/Schulle, S. 227.

Fritz Ostkämper, 5.10.2024
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de