Die „Nürnberger Gesetze“ und ihre Auswirkungen in Höxter (1935-1936)
Nachdem die Juden bereits durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen worden waren, wurden sie durch die am 15. September 1935 in Kraft tretenden sog. Nürnberger Gesetze auch weitestgehend aus dem „deutschen Volkskörper“ ausgegrenzt, und auch die meisten der bis dahin noch geltenden Ausnahmeregelungen für sog. „Frontkämpfer“ und andere wurden außer Kraft gesetzt.
Das „Reichsbürgergesetz“ unterteilte die Bevölkerung des Deutschen Reiches in „Reichsbürger“ und (einfache) „Staatsangehörige“. „Reichsbürger“ war danach nur der „Staatsangehörige deutschen und artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Reich und Volk zu dienen.“ Den Juden wurde dagegen die Gleichberechtigung abgesprochen, und sie verfügten danach als (einfache) „Staatsangehörige“ nur über mindere Rechte.
Mit dem gleichzeitig erlassenen „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ wurde die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Gesetzesform gegossen. Eheschließungen zwischen „Ariern“ und Juden wurden verboten, ebenso auch der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Juden durften keine weiblichen „arischen“ Hausangestellten unter 45 Jahren mehr beschäftigen. Das Zeigen der Reichsflagge, der Nationalflagge und der Nationalfarben war Juden verboten usw.
Durch Zusatzverordnungen wurden in der folgenden Zeit weitere Bestimmungen erlassen. So wurde etwa festgelegt, welche Regelungen für staatsangehörige Mischlinge ersten, zweiten oder dritten Grades galten, wie mit konvertierten Juden umzugehen war und wie christlich verheiratete Juden behandelt werden sollten. Letzteres galt in Höxter für die Jüdin Karoline geb. Heumann und ihren „arischen“ Mann Adolf B., der in Höxter eine Autowerkstatt betrieb und als Fahrlehrer arbeitete. Die beiden lebten vermutlich bereits in Trennung und wurden am Tag des Inkrafttretens der Nürnberger Gesetze offiziell geschieden.1
Manche dieser Verordnungen hatten in Höxter keine unmittelbaren Auswirkungen. Für das Schuljahr 1936 war etwa eine „möglichst vollständige Rassentrennung“ in den Schulen vorgesehen und bei hinreichender Schülerzahl die Errichtung eigener jüdischer Volksschulen. In Höxter gab es aber 1936 nur sechs jüdische Kinder, Irmgard Bukofzer, Renate Weinberg und Walter Uhlmann sowie die noch nicht schulpflichtigen Ruth, Werner und Henriette Simson, und in den Ortschaften wohnten vier jüdische Kinder, Inge Bachmann und Kläre Löwenstein und die noch nicht schulpflichtigen Ilse Uhlmann, und Helmut Löwenstein. Eine eigene jüdische Schule ließ sich damit nicht eröffnen. Die Kinder besuchten deshalb vorläufig weiterhin die allgemeinen Volksschulen und erhielten ihren Religionsunterricht von dem jüdischen Lehrer Selig Buxbaum, der dafür einmal wöchentlich aus Beverungen anreiste.
Wie sich das Verbot der Beschäftigung weiblicher „arischer“ Hausangestellter unter 45 Jahren in Höxter auswirkte, lässt sich nur unvollständig nachvollziehen. Es ist jedoch z. B. belegt, dass Ida Netheim-Marchand (gen. Schönbach), die in Ottbergen eine Gastwirtschaft und ein Kolonialwarengeschäft betrieb, ihre „arische“ Angestellte trotz einer Eingabe beim Oberpräsidenten in Münster Ende 1936 entlassen musste, obwohl diese nicht im Haushalt, sondern im Geschäft oder der Gastwirtschaft arbeitete. Am 8. Februar 1937 meldete der Amtsbürgermeister, „daß die p. Netheim Marchand die arische Angestellte Frischemeyer bereits am 1.12.1936 entlassen hat und z. Zt. eine jüdische Angestellte beschäftigt.“2
Ob auch andere Hausangestellte entlassen wurden, ist nicht bekannt. Es ist aber bezeichnend, dass in den folgenden Jahren nur noch junge jüdische Frauen in den Haushalten der Höxteraner Juden arbeiteten. So war etwa die aus Sehnde stammende Gerda Rose 1935/36 für ein knappes Jahr bei den Frankenbergs beschäftigt.3 Edith Marcus aus Steele arbeitete 1936 ein knappes halbes Jahr bei der Familie Löwenstein. Die in Unterriedenberg geborene Irene Sitzmann unterstützte 1939/40 ein gutes halbes Jahr lang die Witwe Ahron im Haushalt, nachdem deren Tochter Gertrud mit ihrer Familie nach England emigriert war. Und mindestens zwei junge Frauen, Berta Goldschmidt aus Helmern und Ruth Löwenberg aus Datteln, waren je für ein knappes halbes Jahr (1937/38 bzw. 1939) bei der kinderreichen Familie Simson angestellt.4
In anderen Fällen wurden die jüdischen Familien auch wohl zeitweise von jungen Verwandten unterstützt, aber dabei handelte es sich wohl eher um Ferienaufenthalte, wie etwa bei der Nichte Erika Lebenstein, die 1939 eine Zeit bei der Familie Pins verbrachte,5 bei der Nichte Herta Löwenstein, die im Sommer 1939 ihre Verwandten in Fürstenau besuchte,6 oder bei der nicht namentlich bekannten „jungen Jüdin“, die sich im Sommer 1941 bei der Familie Judenberg in Fürstenau aufhielt.7
Eine kurze Phase relativer Ruhe (1935/36)
Nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze ging der Druck auf die Juden wegen der negativen Reaktionen des Auslands (v. a aus den USA) in der Phase der Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele in Berlin vom 1. bis 16. August 1936 für kurze Zeit etwas zurück. Der öffentliche Boykott gegen die Juden wurde im Herbst 1935 offiziell aufgehoben, Einzelaktionen gegen Juden wurden verboten,8 und die Landräte und Bürgermeister wurden aufgefordert, „die antijüdische Propaganda so einzustellen, dass das deutsche Ansehen im Ausland nicht geschädigt wird.“9 Nur noch Schilder der Art „Juden sind hier unerwünscht“ blieben erlaubt.10
Für einige Monate zeigte diese Lockerung auch Wirkung. So wurde der in Ovenhausen ortsansässige 31-jährige Ferdinand W. im Januar 1936 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, weil er in der Nacht des 28./29. September 1935 am Haus des Viehhändlers Max Dillenberg zahlreiche Fensterscheiben zerschlagen hatte. Der Staatsanwalt führte in seiner Anklage aus, „daß der Angeklagte und Leute von seiner Sorte, nicht wüßten, wie das Ansehen des Volkes gerade durch solche Einzelaktionen von Provokateuren geschädigt würde. Sie hätten nicht ein Fünkchen Verständnis von Seiten der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte zu erwarten.“ Und der Richter betonte, das Urteil zeige, „daß die Gerichte und die Strafverfolgungsbehörden auf keinen Fall Einzelaktionen gegen Juden dulden“.11
Auch sonst blieben die Juden für eine kurze Zeit weitgehend unbehelligt. So erinnerte sich ein Zeitzeuge, dass er mit anderen Jungen aus der Stadt wiederholt von dem Höxteraner Viehhändler Richard Dillenberg engagiert wurde, um das Vieh aus seinen Ställen in die Wiesen vor der Stadt auszutreiben. Ebenso brachte er auch dem über 70-jährigen Adolf Lewertoff regelmäßig seine Milch nach Hause, entzündete ihm am Vorabend des Sabbat das Licht und heizte den Ofen an.12
Anmerkungen
1 Vgl. die Einwohnermeldekarte von Karoline Beyerlein.
2 StA Hx, D-Hx-Land 034 018, 8.2.1937.
3 Aus unbekannten Gründen kam es 1936 nicht zu einer Anstellung der aus Stadtlohn stammenden Ilse Stein. Vgl. den Brief von Erika Lebenstein an Otto Pins, 22.7.1936: „Die Sache bei Frau Frankenbergs ist nichts.“.
4 Angaben nach den Einwohnermeldekarten im StA Hx.
5 Vgl. Ingeborg Hölting, Auf den Spuren der jüdischen Familie Lebenstein in Stadtlohn. 2010, S. 14. Vgl. ebenfalls Erika Lebensteins Brief an Otto Pins vom April/Mai 1939 und die Karte der Eltern Pins an ihren Sohn vom 23.8.1939.
6 StA Hx, D-Hx-Land 034 018, 22.7.1939.
7 StA Hx, D-Hx-Land 034 018, 16.8.1941.
8 „Anfang September [flaute] die Aktion gegen die Juden merklich ab, [weil] die Erklärungen Adolf Hitlers auf dem Reichsparteitage in Nürnberg und das Judengesetz hier allen Partei- und Volksgenossen endlich klar machte, daß die Zeit der Einzelaktionen gegen die Juden vorbei ist.“ Regierungsbezirk Minden, Land Lippe und Kreis Hameln-Pyrmont, Bericht für September 1935 o.O., o. D. StA Det, M1 IP Nr. 632 Bd. I. Vgl. auch das Schreiben des Landrats an die Bürgermeister vom 5.9.1935.
9 StA Dt, MII P 670.
10 Vgl. Schreiben des Landrats an die Bürgermeister, StA Hx, … 5.9.1935.
11 Westfälische Volksblatt, 17.1.1936.
12 Heinrich Alsweh, 4.8.1988.