Jüdische Bürger in Höxter

Ein echter Texaner: Ernst Kohlberg (1881)
Ein echter Texaner: Ernst Kohlberg (1881)

Ernst Kohlberg – Ein ehemaliger jüdischer Schüler
des KWG im „Wilden Westen“

Ernst Kohlberg – 1910 in El Paso/Texas ermordet

„Wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß, wäre ich nicht hierher gekommen.“ Das schrieb Ernst Kohlberg im Jahr 1875 an seine Eltern in Beverungen. Ernst Kohlberg gehört zu den rund 5 Millionen Deutschen, die in den Jahren zwischen den Befreiungskriegen 1815 und dem Ersten Weltkrieg in die USA auswanderten, um im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ „vom Tellerwäscher zum Millionär“ aufzusteigen, wie es noch im 20. Jahrhundert hieß.
Sicher gibt es noch in vielen Höxteraner Familien Erinnerungen an Familienangehörige, die im 19. Jahrhundert ihr Glück in Amerika suchten. Sicher ist damals auch eine beachtliche Zahl ehemaliger Schüler des KWG ausgewandert. Jedoch fehlen Zahlen.
Nur bei den 163 jüdischen Schülern gibt es inzwischen einen Überblick. Insgesamt sind von ihnen zwischen 1867 und 1933 mindestens 16, also knapp 10 % ausgewandert, weit überwiegend in die USA. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war der Prozentsatz noch bedeutender.
Nun lag zwar der Anteil der Juden an den Auswanderern wegen ihrer sozialen Lage höher als bei den Nichtjuden, jedoch unterschieden sich die weiteren Lebenswege der beiden Gruppen in den USA im Grunde nicht, wo die Religionszugehörigkeit nicht zählte und wo jeder selbst sein Glück machen wollte und musste. Insofern kann Ernst Kohlberg wohl durchaus als repräsentativ betrachtet werden für jene Gruppe von USA-Einwanderern, denen es gelang, dort Fuß zu fassen und zu Reichtum und Erfolg zu gelangen – wenn auch sein gewaltsamer Tod selbst für den damaligen „Wilden Westen“ sicher nicht typisch ist.

Ernst Kohlberg wurde am 24. Mai 1857 in Beverungen als Sohn des aus Herstelle stammenden Kaufmanns Jacob Kohlberg und seiner Frau Johanna Rothschild aus Ottenstein geboren. Er hatte insgesamt neun Geschwister, von denen allerdings zwei bereits als Kleinkinder starben. Nach der Volksschule besuchte er zunächst das Gymnasium Andreanum in Hildesheim und wechselte im Herbst 1872 in die Untertertia (8. Klasse) des KWG, das er Ostern 1874 mit der Versetzung nach Untersekunda (10. Klasse) verließ, um Kaufmann in Beverungen zu werden, wie es in den Akten heißt. In Wirklichkeit bereitete die Familie wohl bereits seine Auswanderung in die USA vor, denn bei seinem Abgang schenkte er der biologischen Sammlung des KWG „mehrere amerikanische Schlangen“.
Am 15. August 1875 verließ Ernst Kohlberg seine Heimat, vermutlich auch, um dem Militärdienst in Deutschland zu entgehen. Da die Familie das Geld für die Überfahrt nicht aufbringen konnte, hatte der Vater einen Vertrag mit dem mitreisenden Salomon C. Schutz geschlossen, einem jüdischen Geschäftsmann, der in Franklin, wie El Paso damals noch hieß, zwei Geschäfte betrieb. Ernst war verpflichtet, zwischen sechs Monaten und einem Jahr unentgeltlich für Schutz zu arbeiten, um die Kosten der Überfahrt zu erstatten und zugleich das Kaufmannsgeschäft zu erlernen.
Am 1. September kamen Kohlberg und Schutz in New York an und fuhren von dort mit dem Zug bis Las Animas in Colorado, der Endstation der Bahn. Von dort ging es mit der Postkutsche weiter bis Franklin (El Paso), wo sie am 9. Oktober ankamen.

Der 18-jährige Kohlberg war von der Stadt mitten in der Wüste am Rio Grande, dem Grenzfluss zwischen der USA und Mexiko, ganz und gar nicht angetan; [Fliessendes Objekt][Fliessendes Objekt]er fühlte sich, wie er seinen Eltern schrieb, „fast am Ende der Welt und aller Zivilisation“. Auch mit der Ernährung hatte er zunächst Schwierigkeiten: „Enchiladas sind dünne gebratene Teigscheiben, auf beiden Seiten mit roter Chilisoße bedeckt. Zuerst war Chili und alles, was damit zu tun hat, für mich etwas Höllisches, aber man gewöhnt sich an alles, und inzwischen kann ich es verschlingen wie ein Mexikaner, und mir fehlt etwas, wenn es nicht auf dem Tisch ist.“ Und bald kann er auch vom „herrlichen Klima“ El Pasos schreiben.

Mehrfach beklagt sich Kohlberg über die Vertragsbedingungen mit Schutz, obwohl die Beziehungen sonst gut sind. Aber er ist ehrgeizig, und nach acht Monaten in Schutz’ Geschäften auf beiden Seiten des Rio Grande wird er für ein Jahresgehalt von 250$ eingestellt. Er lernt intensiv Spanisch, führt die Geschäftsbücher zweisprachig und tut alles, um ein echter Texaner zu werden. Oft besuchen er und seine Freunde Feste und Feiern auf mexikanischer Seite und vergnügen sich spät nachts damit, den Fluss hin und her zu durchreiten, „die Revolver in den Händen“.

Bald wird Kohlberg stellvertretender Konsul der Vereinigten Staaten im mexikanischen El Paso del Norte/Chihuahua (heute Juaréz) und Hilfspostmeister in Franklin. Jedoch sieht er in der Firma der Schutz-Brüder für sich keine Perspektive. Also investiert er all sein Geld in eine Goldmine in Mexiko. Nach zwei Jahren gehen ihm die Mittel aus, und er muss nach Franklin zurückkehren. Von dort zieht er nach San Francisco, ist Verkäufer in einem Kolonialwarenhandel und arbeitet in einem Tabakgroßhandel. Ende 1881 kehrt er nach Franklin zurück und eröffnet dort mit seinem ebenfalls ausgewanderten jüngeren Bruder Moritz, der sich zunächst in Connecticut angesiedelt hatte, ein Zigarrengeschäft.

Bekanntlich herrscht in den jungen Städten der USA damals Frauenmangel. Vermutlich deshalb fährt Kohlberg 1884 nach Deutschland, wo er auch seine Familie besucht. Er trifft auf Olga Bernstein aus (Wuppertal-)Elberfeld. Die beiden heiraten am 22. Juni 1884 und reisen zusammen nach El Paso zurück, wo Olga Kohlberg den ersten Kindergarten in Texas gründet und durch viele weitere soziale Aktivitäten bekannt wird.. Das Ehepaar selbst hat vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter, deren Nachkommen noch heute in den USA leben.

Kohlberg Visitenkarte

1886 gründen die Brüder Kohlberg die International Cigar Factory, die erste Zigarrenfabrik im Südwesten der USA. Einige Jahre später kommt eine zweite Fabrik in Philadelphia hinzu. Den Tabak beziehen sie aus Cuba, und „La Internacional“, ihre teuerste Zigarre, wird zum Markenzeichen der Firma.

Obwohl Mitglied der Republikaner im weit überwiegend von Demokraten dominierten El Paso, wird Kohlberg 1893 problemlos in den Stadtrat gewählt, und er und seine Frau engagieren sich auf die vielfältigste Weise. 1898 rufen sie die jüdische Berg-Sinai-Gemeinde ins Leben, und 1903 wird der Grundstein für die Synagoge gelegt.

Ernst ist Mitbegründer der Elektrizitätsgesellschaft von El Paso. Er wird Direktor zweier Banken usw., und er gehört zahlreichen Vereinen und Clubs an, darunter auch dem Verein fortschrittlicher deutscher Juden. Außerdem gehören ihm das Hotel St. Regis, wo 1909 der US-Präsident Howard Taft und der mexikanische Präsident Porfirio Díaz zusammentreffen, und das Hotels St. Charles.

1910 verpachtet er das St. Charles an einen Mann namens John Leech, einen süchtigen Spieler, der bald die Pacht nicht mehr aufbringen kann. Kohlberg übergibt daraufhin die Angelegenheit seinem Anwalt; aber am 17. Juni 1910 wird Leech bei ihm vorstellig und verlangt, er solle seine Klage zurückziehen. Als Kohlberg sich weigert, zieht Leech seinen Revolver und erschießt Kohlberg. Leech wurde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, aber 1934 vom Gouverneur begnadigt.

Natürlich gelang durchaus nicht allen Auswanderern des 19. Jahrhunderts ein solch erfolgreicher Aufstieg wie Ernst Kohlberg, aber auch bei anderen Auswanderern des KWG ahnt man hinter der dürftigen Quellenlage vergleichbare Lebenswege. Und auch in den USA und in Texas selbst wird Kohlbergs Schicksal als repräsentativ betrachtet. Als Tom Lea 1952 seinen Roman The Wonderful Land verfasst (später verfilmt mit Robert Mitchum), benutzt er für eine der Figuren, die des Ludwig Sterner, das Leben Ernst Kohlbergs als Vorlage und macht so einen ehemaligen Schüler des KWG zur Romanfigur.

The Handbook of Texas
The Kohlberg Family Papers

Fritz Ostkämper, 2002
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de