Jacob Pins Leben und Werk

Ralph Giordano: Der Maler und Sammler Jacob Pins

Geboren in Höxter an der Weser, heute Jerusalem, Ethiopia Street 5 – altes Haus aus der Türkenzeit, schmiedeeiserne Gitter, drei Balkons (einer davon muß der von Romeo und Julia gewesen sein), wildromantisches Ambiente, die enge Straße voll orientalischer Architektur aus der osmanischen Ära, alles überwuchert von schlingendem Grün.

Drinnen italienischer Marmor, Carrarafußboden, die lichten Räume mit den hohen Decken voll von Ostasiatica, ein fernöstliches Museum: Figuren, Köpfe, chinesische Skulpturen – »7. und 8. Jahrhundert!« –, Gestalten aus der Tschongzeit – »960 bis 1278!« –, japanische Holzschnitte, japanische Malereien; in der Mitte des Hauptraumes, von oben angeleuchtet, die herrliche Statue einer Frau – »›Göttin der Barmherzigkeit‹, von mir gekauft als Stück aus dem 6. Jahrhundert, tatsächlich aber von 1920, eine Fälschung, aber schön gefälscht!«

Es blieb die einzige.

Der Mann, der mich zwischen all den Kostbarkeiten herumführt und sie knapp kommentiert, steckt in Arbeitskluft: verschmierte Hose, aufgekrempelte Ärmel, Pinsel in der Hand – Jacob Pins ist bei der Arbeit. Er unterbricht sie aber sofort und gern, denn Besuch aus Deutschland ist so häufig nicht.
Aus dem Grammophon – Orff, nicht meinetwegen, der altertümliche Kasten lief schon, als ich hereinkam.
Jacob Pins, klein, gemütlich beleibt, an die Siebzig bei blühendem Aussehen, ist hier seit 1965, das große Haus beherbergt Wohn- und Arbeitsräume, darunter eine Malerwerkstatt von genialischer Unordnung. Hier läßt sich’s leben, hier läßt sich’s sein. Aber so gnädig war das Pinssche Dasein keineswegs immer.

Der Vater, Tierarzt in Höxter, galt als angesehener Bürger, bis solcher Status von 1933 an staatlich verneint wurde. Jacob Pins, der Sohn, roch das kommende Unheil früh und wanderte aus – 1936, nach Palästina. Er sollte die Eltern nie wiedersehen. Denn die kamen nicht heraus aus Deutschland. Sie hätten ein Papier vorweisen müssen, das ihnen die Einreise nach Palästina gestattete. Als Voraussetzung dafür forderte die britische Mandatsverwaltung in Palästina, daß Jacob Pins dort über ein Mindesteinkommen von zwölf Pfund im Monat verfügte – was auf den armen, von seiner Malerprofession besessenen Sohn nicht zutraf. In der Frage von Sein oder Nichtsein des Vaters und der Mutter entschied das fehlende Zertifikat für den Tod.

Davon ahnte Jacob Pins noch nichts, als er hierherkam, Mitglied eines Kibbuz in der Nähe von Tel Aviv wurde und sich in einer Landschaft ohne Baum und Strauch sah. »Heute ist das dort ein Garten Eden«, sagt er, nachdem er mir einen selbstgefertigten Kuchen samt meinem Lieblingstee serviert hat, »aber damals, in den Jahren nach meiner Ankunft, habe ich furchtbar gelitten. Ich war doch im Weserbergland aufgewachsen, in der herrlichen Umgebung von Höxter. Ich habe in der Weser geschwommen und bin im Wald groß geworden, mit Eidechsen und Schlangen, Mäusen und Feuersalamandern. Wir haben Stieglitze gefangen! Und dann diese Öde – keine Berge, wie ich sie kannte, sondern nur Hügel, und keine Bäume. Zwei Monate Grün im Frühling, danach nichts als Gelb – und der Chamsin, der fürchterliche Wüstenwind.«

Noch schlimmer aber war der Hunger.

»Den sind wir im Kibbuz richtig strategisch angegangen. Heute heißt es: ›Friß die Hälfte‹, um abzuspecken, und genau das war unsere Losung damals, wenn auch aus gegenteiligem Grund, weil nämlich nichts da war. Also hieß es eines Tages: ›Ab morgen kein Frühstück mehr‹, jedenfalls für alle, die nicht auf Außenarbeit gingen. Essen gab es nur noch um zwölf, und Abendbrot um sieben. Das hört sich großartig an, war aber mittags nichts weiter als eine halbe Scheibe Brot und eine Wassersuppe, in der, wenn man Glück hatte, ein Stückchen Mohrrübe schwamm, und abends ein Griesbrei ohne Milch und Zucker, dafür aber mit Salz gewürzt, und wieder eine halbe Scheibe Brot. Das ging eine ganze Zeit so.«
Jacob Pins wollte nie etwas anderes als Maler werden, und deshalb war der Kibbuz der falsche Ort für ihn. Was zunächst nichts anderes bedeutete, als daß der Versuch, sich selbständig zu machen, die Hungerära verlängerte. »Ich hatte das Überleben zu einer richtigen Kunstform entwickelt. Morgens Brot und Margarine, abends Margarine und Brot, mittags gelegentlich das Festmahl einer Linsensuppe. Und einmal die Woche Würstchen, oder so etwas Ähnliches – köstlich!«

Dann kamen die ersten Ausstellungen, die ersten Erfolge, und »seit Mitte der fünfziger Jahre konnte ich von meiner Kunst leben, nicht immer luxuriös und pompös, aber auch nicht schlecht. Und ich konnte reisen.« Mit der Sammlerwut im Nacken. Diese Leidenschaft hat Jacob Pins längst zu einem wohlhabenden Bürger werden lassen. »Was damals ein paar Cents kostete, hat heute den hundertfachen Wert, was du damals bei Sotheby’s für fünf Schillinge erstanden hast, brächte dir jetzt Tausende von Dollar.«

Aber von Pins’ Schätzen wird nichts verkauft werden — nach seinem Tod kommt, so ist es testamentarisch geregelt, das ganze Kulturgut in den Besitz des Israel-Museums in Jerusalem, samt den 1500 Bänden japanischer und chinesischer Malereien und Schriften.

»Haben Ihre Reisen Sie auch nach Deutschland geführt?«
»Öfter, wenn ich in Europa war, bei Freunden in Italien und in der Schweiz – auch nach Höxter. Ich mußte dahin, ich hatte das Gefühl, ich hätte dort meine Kindheit, meine Jugend verloren. Insgeheim, in meinem Schädel, wußte ich, daß das Blödsinn war, aber mein Herz sagte mir: Ich muß es noch einmal sehen. Man hatte mich gewarnt in Israel, Freunde, die das schon selbst erlebt hatten und kannten. Ich kam mit der Eisenbahn, aber ich war noch nicht aus dem Zug, da wollte ich schon wieder umkehren. Ich fand dann Höxter so klein, viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Ich habe einige Leute besucht, einige wenige, von denen ich wußte, daß sie keine Nazis waren. Aber nach zwei Tagen ich auf und davon.«

Dennoch kam Jacob Pins wieder nach Höxter, auch um auszustellen. Ich kannte viele seiner Arbeiten schon, bevor ich sie hier in seinem Haus wiedersah. Auf einer meiner Lesungen war ich auch in die Weserstadt gekommen und am Morgen danach vor seine Arbeiten geführt worden: Gemälde, kräftige Farben, Aquarelle, Zeichnungen, Farbholzschnitte – Jüdisches und seine tragische Geschichte, Tiere in Bewegung, Menschenköpfe, israelische Landschaften, der Negev, Licht und Schatten in Akko und Jerusalem, auch Höxter, schwarzweiß. Das alles war schon, außer in Israel, in London, New York und Amsterdam gezeigt worden, in Chicago, Köln, Rio de Janeiro und vielen anderen Städten der Welt.
Einmal wurde Jacob Pins gerufen um einer Ausstellung willen, die nicht die eigene sein sollte, sondern eine, die sich mit der Geschichte der Höxter Juden befaßte. »Sie wollten unbedingt, daß ich kam, und so holten sie mich. Irgendwas war anders als sonst, das spürte ich. Diesmal besuchte ich auch die ehemalige Synagoge der Stadt. Sie war in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 nicht angezündet worden, aber nur, weil sie inmitten einer Hausreihe steht, die sonst mitverbrannt wäre. Da wohnen heute Privatleute drin, die haben die ornamentalen Fensterrahmen herausgenommen und achtlos weggeworfen. Das hatten die Organisatoren der Ausstellung gesehen, die Rahmen an sich genommen, geschliffen und geölt, und dann als Element der Ausstellung ›Juden in Höxter‹ verwendet. Ich war davon sehr angetan.«

Und dann stieß Jacob Pins auf etwas, was ihn noch weit mehr erregte – auf ein Foto in einer Bielefelder Zeitung von 1942: seine Eltern, die sich auf dem Wege nach Riga befanden, ins Nichts, in den Tod.
»Als ich das sah auf dieser Ausstellung, war ich ungeheuer bewegt, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie.«
Wir gehen auf einen der Balkone, dem über der Ethiopia Street, und schauen in das idyllische Viertel. Drüben, auf der Terrasse eines anderen Hauses türkischer Bauart, steht ein Maler vor einer Staffelei; ringsum Zypressen, Kiefern, naturbelassenes Grün, durch keine Schere gestutzt. Um meine Beine streicht einer von drei Katern, die hier seit langem die Herrschaft angetreten haben, legt sich dann quer über meine Schuhe, voller Vertrauen, und läßt sich kraulen.

Als wir ins Zimmer zurückgehen, sagt Jacob Pins, das Foto seiner ermordeten Eltern in der Hand: »Israel ist meine Heimat, ohne Abstriche, auch wenn es lange gedauert hat, bis ich Hebräisch sprechen konnte. Aber – einmal Jekke*, immer Jekke…«

Jekke: Bezeichnung der in Palästina/Israel eingewanderten Juden aus Deutschland

Ralph Giordano
Ralph Giordano

aus: Ralph Giordano: Israel, um Himmels willen, Israel. Kiepenheuer & Witsch. © 1991 (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)