Jüdische Bürger in Höxter

Die Schlachterfamilie Himmelstern
und die Familie Simson

Die Familie Himmelstern zählt zu den sehr alt eingesessenen jüdischen Familien in Beverungen und ist dort mindestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verzeichnet. Schon Süsskind Jacob Himmelstern (1760–1847), der erste in Beverungen namentlich bekannte Angehörige der Familie, erscheint in den Quellen als Schlachter, und auch seine Nachkommen übten vorwiegend des Beruf des (koscheren) Schlachters und Metzgers aus.

Noch bis ins Dritte Reich gab es zwei von Angehörigen der Familie Himmelstern betriebene Metzgereien in Beverungen, bis diese 1936 verkauft wurden und die Besitzer mit ihren Familien in der Folgezeit ins Ausland flohen.

Alexander Himmelstern, Gymnasiast in Höxter

Trotz der räumlichen Nähe kam es erst spät zu einer erste Verbindung nach Höxter, als Alexander Himmelstern (1855–1920), Sohn des Beverunger Metzgers Moses Himmelstern und seiner Frau Dina, geb. May nach dem Besuch des Progymnasiums in Warburg 1873 nach Höxter kam, um hier Ostern 1875 das Abitur abzulegen.

Alexander Himmelstern (rechts) auf dem Abiturfoto (1875)
Alexander Himmelstern (rechts) auf dem Abiturfoto (1875)

Danach studierte er in Göttingen Philologie mit dem Schwerpunkt Neuere Sprachen und absolvierte in dieser Zeit auch seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger. Ab 1879 unterrichtete er zunächst als „provisorischer Lehrer“ und nach seiner zweiten Staatsprüfung als Gymnasialprofessor am Pro- und Realgymnasium in Durlach (Karlsruhe) und promovierte in dieser Zeit 1882 zum Dr. phil.

Ab 1894 bis 1905 war er dann Lehrer am Gymnasium in Bruchsal, einer Stadt mit starkem jüdischen Bevölkerungsanteil, bevor er 1905 zu einem Gymnasium in Heidelberg wechselte, wo er 1906 im Rahmen einer Massenausschüttung das Ritterkreuz I. Klasse vom Zähringer Löwen-Orden erhielt. Er starb 1920 vor Erreichung seiner Pensionierung in Heidelberg.

Alexander Himmelstern war offenbar wenig religiös. Das lässt sich jedenfalls aus der Heiratsurkunde bei seiner zweiten Heirat schließen, der zufolge er sich selbst als „freireligiös“ bezeichnete. Als ›guter Deutscher‹ trug er dagegen 1895 zum Kaisergeburtstag mit einer Festrede über die deutschen Kolonien bei und hielt während des Ersten Weltkriegs in Heidelberg bei einem „Vaterländischen Volksabend“ einen Vortrag unter dem Thema „Der Kampf um die Dardanellen“.

Gleich nach der „Evakuierung“ Rosalie Wassermanns stellte das Land die Zahlungen ein
Gleich nach der „Evakuierung“ Rosalie Wassermanns stellte das Land die Zahlungen ein

1886 heiratete er die aus Borgholz gebürtige Selma Löwenstein (1862 – um 1910) und hatte mit ihr die Töchter Antonie (* 1887) und Hedwig (* 1889), über die nichts Weiteres bekannt ist. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1913 die ebenfalls verwitwete Rosalie Wassermann, verw. Beer (1876–1941), die zwei Kinder mit in die Ehe brachte. Nach seinem Tod lebte sie weiterhin in Heidelberg, bis sie im Dritten Reich ein Opfer des Holocaust wurde. Sie wurde im Oktober 1940 „evakuiert“ und in das Lager Gurs in Frankreich verschleppt. Dort kam sie am 6.1.1941 um.

Die Familie Himmelstern-Simson in Höxter

Anzeige von 1933
Anzeige von 1933
Anzeige von 1914
Anzeige von 1914

Ab etwa 1900 ließ sich der aus der Beverungen Familie stammende Simon Himmelstern (1862–1936) mit seiner zuvor geheirateten Frau Bertha, geb. Schierling (1869–1942) aus Marburg dauerhaft in Höxter an der Westerbachstraße 12 als Metzger nieder. Sicherlich übernahm er dabei die Einrichtung der jüdischen Höxteraner Familie Neuberg, die in dem Haus bis dahin eine Schlachterei betrieben hatte.

Huxaria, 22.4.1915
Huxaria, 22.4.1915

Der erstgeborene Sohn Paul (1904–1905) starb mit einem Jahr, während die Tochter Regina (1902–1943) im Elternhaus aufwuchs. Sie besuchte bis Ostern 1918 die höhere Mädchenschule am Markt in Höxter. Wie andere Kinder sammelte sie im Ersten Weltkrieg Goldgeld für die Stiftung „Vaterlandsdank“.

Nach bestandener Abschlussprüfung (1918) ging sie anschließend zum Lyzeum und arbeitete nach dem Krieg mit Zwischenphasen in Höxter in verschiedenen Städten in Deutschland: Kassel, Köln, Saarbrücken, wieder Köln und schließlich ab etwa 1930/31 in Berlin-Tempelhof. Dort lernte sie ihren in Gilgenburg (Ostpreußen) geborenen späteren Mann Siegfried Simson (1901–1942) kennen, der spätestens seit 1922 in Berlin lebte und dort mit einer Nichtjüdin eine 1926 geborene uneheliche Tochter hatte, deren Sohn noch heute in Berlin lebt.

Anzeige von Ende 1932
Anzeige von Ende 1932

Im November 1932 zog Siegfried Simson nach Höxter und noch im selben Monaten heirateten er und Regina Himmelstern und lebten seitdem mit Reginas Eltern im Haus Westerbachstraße 12 in Höxter. Dort eröffnete Regina Simson noch im selben Jahr im ersten Stock einen Friseurladen, den sie jedoch schon nach wenigen Monaten im März 1933 wieder schloss. Ob die Schließung möglicherweise politische Hintergründe hatte – etwa die Boykottaktionen der Nazis – und deshalb die Kunden ausblieben, ist nicht bekannt. Dass auch der Vater Simon Himmelstern im Juni 1933 seine Metzgerei aufgab, erklärt sich aber sicher aus Altersgründen. Er starb im Oktober 1936 und ist auf dem jüdischen Friedhof in Höxter begraben.

Ein Fragment seines Grabsteins
Ein Fragment seines Grabsteins
Simon Himmelstern auf einem Passfoto
Simon Himmelstern auf einem Passfoto

Bisher ist nicht bekannt, was für eine berufliche Tätigkeitkeit Siegfried Simson ausübte, jedoch wird er in den Quellen als Kaufmann bezeichnet. Möglicherweise war er ebenfalls an dem Handel mit Kaffee, Tee und Kakao beteiligt, den seine Frau 1934 begann, zu dem aber kein Ladengeschäft gehörte. Denn die ehemalige Fleischerei im Erdgeschoss wurde an ein „arisches“ Fischgeschäft verpachtet. Später erscheint Siegfried Simson dann als Arbeiter, worüber aber sonst ebenfalls nichts bekannt ist.

In rascher Folge wurden vier Kinder geboren: Ruth (* 1933), „ein rotblondes, bildhübsches Mädchen, die hatte so ein rötliches Haar, schulterlang, bildhübsch“, wie sich ein Zeitzeuge erinnert, danach der Sohn Werner (* 1934), die zweite Tochter Henriette (* 1936) und der zweite Sohn Günter (* 1937).

Als den jüdischen Kindern ab 1939 der Besuch der öffentlichen Schulen verboten wurde, mussten die Eltern Simson ihre beiden älteren Kinder Ruth und Werner 1940 bzw. 1941 in das Jüdische Waisenhaus an der damals in Sudetendeutsche Straße umbenannten Leostraße nach Paderborn schicken, damit sie dort an der Jüdischen Schule ihre Schulpflicht erfüllen konnten.

Kinder im jüdischen Waisenhaus in Paderborn
Kinder im jüdischen Waisenhaus in Paderborn
 Das Jüdische Provinzial-Waisenhaus in der Leostraße in Paderborn
Das Jüdische Provinzial-Waisenhaus in der Leostraße in Paderborn

Mit den anderen männlichen Juden wurde Siegfried Simson in der Pogromnacht 1938 im Keller des Rathauses eingesperrt und dann in das KZ Buchenwald verbracht, von wo er nach zwei Wochen am 24.11.1938 nach Höxter zurückkehrte. Ob eine Krankheit, an die sich eine Nachbarin erinnert, auf die Internierung in Buchenwald zurückgeht, ist unbekannt, jedenfalls befand er sich bei der Volkszählung am 17.5.1939 sich im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt/M.

Seit dieser Zeit mussten die Kinder im Haus bleiben. „Rotes, lockiges Haar hatten sie. Sie durften nicht runter zu uns in den Hof um zu spielen, aber wir warfen unseren Ball zum ersten Stock, sie fingen ihn und warfen ihn wieder zu uns. Dann …… plötzlich waren sie verschwunden. Ich verstand es nicht. Im Fenster blieb es leer. So, so, so traurig.“ So erinnert sich ein damaliger Spielkamerad aus dem Nachbarhaus, einem Tabakwarengeschäft.

Auch dessen Mutter hielt weiterhin den Kontakt und unterhielt sich im Dunkeln leise mit ihrer ehemaligen Klassenkameradin Regine und ließ ihr mithilfe eines Körbchens aus ihrem Tabakwarengeschäft an einer Schnur Rauchwaren zukommen, worauf bald ein Polizist und zwei Ziviisten (Gestapo?) in Geschäft auftauchten, sie verhörten, beschimpften und alles wild durchwühlten.

Kurz vor der Deportation schenkte Regine ihrer Nachbarin und Freundin im Geheimen ein schönes weißes Porzellan-Essservice mit Goldrand, das später in der Familie an besonderen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern auf den Tisch kam, über dessen Herkunft aber nicht öffentlich gesprochen wurde. Und am letzten Abend vor der Deportation bat Regine ihre Freundin: „Tilla, bete für mich, ich komme über meine Kindergebete nicht hinaus!“

Am nächsten Morgen musste die ganze Familie Himmelstern-Simson um 7 Uhr zum Abtransportort bereit stehen und wurde dann am 13.12.1941 über Bielefeld in das Ghetto in Riga deportiert. Die 72-jährige Bertha Himmelstern hätte wegen ihres Alters wohl eigentlich noch in Höxter bleiben können, sie zog es jedoch offenbar vor, ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und die vier Enkel zu begleiten.

Wie der überlebende Höxteraner Gustav Uhlmann berichtet, starb Bertha Himmelstern schon nach kurzer Zeit. Siegfried Simson wurde nach seiner Aussage im März 1942 wegen Tauschhandel erschossen oder „wegen etwas Brot“ gehängt, wie sich eine Cousine erinnert. Die Kinder wurden vermutlich bei einer der zahlreichen Selektionen ermordet.

Suchanzeige von Siegfried Simsons Schwester Paula Guttmann, „Der Weg“, 4.10.1946
Suchanzeige von Siegfried Simsons Schwester Paula Guttmann, „Der Weg“, 4.10.1946

Regina Simson wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt in das behelfsmäßige Konzentrationslager Jungfernhof, ein heruntergekommenes Gut einige Kilometer von Riga, verbracht und blieb auch noch dort, als die meisten anderen Insassen im März 1942 im Bikierniki-Wald ermordet wurden. Offenbar erschien sie mit ihren 40 Jahren noch geeignet, nach der Auflösung des Lagers auf dem nun von der SS betriebenen Gut in einem Arbeitskommando zur harten Feldarbeit eingesetzt zu werden. Sie kam dort oder nach dem Rücktransport ins Rigaer Ghetto Ende Mai 1943 um.

Fritz Ostkämper, 4.7.2016
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de