Jüdische Bürger in Höxter

Familie Blumenthal und der Vorfahr Meyer Levi

Die Höxteraner Familie Blumenthal geht vermutlich auf den Prager Juden Jacob Bassevi von Treuenberg (1580–1634) zurück, bekannt vor allem als kaiserlicher Hofbankier und Finanzier während des Dreißigjährigen Kriegs. Sein Sohn Aron zog 1638 nach Polen, aber dessen Sohn Markus Jacob Levi kam 1648 nach Brakel und Ottbergen, und seine Nachkommenschaft verbreitete sich in der Umgebung. Die genaueren Abstammungsverhältnisse lassen sich jedoch bisher nicht klären.

Während sein Sohn Jacob Levi (* nach 1698) in Brakel lebte, ging der Sohn Meyer Levi (nach 1699 – vor 1782) nach Höxter, wo er sein Vermögen vor allem mit dem Schlachten von Vieh erwarb, so dass sich das Knochenhaueramt 1754 beim Landesherrn beschwerte, weil Meyer Levi „all jährlich schier an die 90 stück vieh, und an kleinen viehe ohnzahlbahr viel, ja in einer wochen zuweilen an die 20 stück“ schlachten und das Fleisch in der Stadt verkaufen würde. Schon 1743 waren sogar einige Meister in sein Haus eingedrungen und und hatten das eingezogene Fleisch an die Armen der Stadt verteilt.

Der Landesherr gab Meyer Levi Recht, aber der Rechtsstreit zog sich über Jahre hin. Er gehörte zu wohlhabenden Mittelschicht, war ebenso wie sein Brakeler Bruder Jacob Levi mit Fleischhandelsprivilegien ausgestattet und belieferte jahrzehntelang die landesherrliche Residenz mit Frischfleisch. Zudem war er berechtigt, die „Zungenpacht, welche die Juden von allen geschlachteten Vieh liefern müssen“ einzuziehen. Er war im Korn- und vor allem während der Erntezeit im Pferdehandel tätig, verlieh Geld und hatte gegen gegen eine jährliche Gebühr zeitweise auch den Lumpenhandel gepachtet.

Dazu kamen Geld- und Kreditgeschäfte, derentwegen Meyer Levi etwa 1762 um eine Heraufsetzung des Zinssatzes einkam, und in den 1770er Jahren zog ihn der Fürstabt Philipp von Spiegel zum Desenberg als Berater zu einem Kreditgeschäft hinzu, bei dem ihm Meyer Levi als Vermittler eine „ansehnliche Summe“ von Kreditgebern in Hannover beschaffte, wohin er geschäftliche und vermutlich auch familiäre Verbindungen hatte.

Nicht nur unter den Juden verfügte Meyer Levi über hohes Ansehen, wie etwa aus der Tatsache erhellt, dass ihn der Fürstabt Kaspar von Böselager 1754 zum neuen Obervorsteher der Corveyer Judenschaft einsetzte, als diese wiederholt die Absetzung des bisherigen Obervorstehers forderte.

Geleitbrief für Nachmann Meyer vom 5. Nov. 1782
Geleitbrief für Nachmann Meyer vom 5. Nov. 1782
Ausstehende Zahlungen für Nachmann Meyer, 1806
Ausstehende Zahlungen für Nachmann Meyer, 1806

Nach Meyer Levis Tod gingen seine Geschäfte auf die drei Söhne Nachmann Meyer, Levi Meyer und Joel Meyer über, und alle drei sind noch um 1789 in Höxter belegt. Über den mittleren Sohn Levi ist nur bekannt, das er 1776 für 20 Jahre das Haus Westerbachstr. 25 kaufte, wo er noch 1795 verzeichnet ist,. Für seinen Bruder Nachmann (✡ spätestens 1806) ist ein Geleitbrief aus dem Jahr 1782 überliefert, mit dem ihm der Corveyer Fürstabt Johann Karl Theodor von Brabeck seinen Schutz zusicherte. In der folgenden Zeit zog Nachmann jedoch für lange Jahre nach Braunschweig, wo er unter anderem als Lieferant für die Truppen genannt wird. So berichtet der Commissär v. Reiche 1803 aus dem Herzogtum Lauenburg, daß er ›mit dem Juden Nachmann Meyer einen Contract über Lieferung der Französischen Hospital-Requisite abgeschlossen‹ habe, und aus einer Liste der offenen Forderungen aus dem Königreich Hannover an Preußen erfährt man, dass der „weiland Negociant“ – also inzwischen gestorbene Lieferant – Nachmann Meyer 1806 „150 Last Hafer“ nach Preußen verkauft hatte.

Zum Zeitpunkt dieses Geschäftsabschlusses lebte Nachmann Meyer schon nicht mehr in Braunschweig, nachdem er um 1800 nach Höxter zurückgekehrt war und das Haus Westerbachstraße 29 gekauft hatte, in dem die Höxteraner Juden bis 1812 einen angemieteten Raum als Synagoge nutzten. Schon 1808 verkaufte er (oder seine Erben) dieses Haus an den in Höxter gebliebenen jüngsten Bruder Joel Meyer.

Vom Corveyer Fürstbischof Ferdinand von Lüninck ausgestellter Geleitbrief für Joel Meyer von 1795
Vom Corveyer Fürstbischof Ferdinand von Lüninck ausgestellter Geleitbrief für Joel Meyer von 1795
Das ehemalige Haus Joel Meyer Blumenthal in der Westerbachstraße 29 um 1906, rechts angeschnitten sein früheres Haus Nr. 31
Das ehemalige Haus Joel Meyer Blumenthal in der Westerbachstraße 29 um 1906, rechts angeschnitten sein früheres Haus Nr. 31

Dieser Joel Meyer (1765–1844), für den die verwitwete Mutter schon um 1789 beim Landesherrn um einen Schutzbrief eingekommen war, war in Höxter geblieben und wohnte im Haus Westerbachstraße 31, das ihm sicher aus dem Erbe des Vaters zugefallen war. Er trug den vom Namen der Stadt abgeleiteten Beinamen Heckscher (vielleicht ein Hinweis, dass bereits der 1580 in Höxter geborene Ephraim Meier Heckscher ein Vorfahr der Familie war, der allerdings bald nach Altona verzog).

1795 heiratete Joel Meyer die aus Hannover stammende Bune (Blume) Simon (1775–1847), deren Familie später den Namen Kann annahm. 1808 kaufte er von seinem Bruder Nachmann das Haus Westerbachstraße 29, in dem sich bis 1812 die (angemietete) Synagoge der Höxteraner Juden befand, vielleicht weil Joel ein „Talmudgelehrter“ war, wie der deutsch-jüdische Philosoph und politische Publizist Theodor Lessing in seinen Erinnerungen berichtet, ein Urgroßneffe von Joel Meyers Frau Buna. Das Ehepaar hatte vier Kinder, die zwischen 1797 und 1806 geboren wurden und die ebenso wie die Eltern seit der Namensannahme der Juden im Königreich Westphalen den Namen Blumenthal trugen.

Genauere Einzelheiten über die berufliche Tätigkeit Joel Meyer Blumenthals sind nicht bekannt, aber ebenso wie sein Bruder Nachmann war er als Kaufmann tätig. So ist überliefert, dass er 1810 beim Abbruch der Petrikirche deren beiden kleineren Glocken für 466 und 235 TIr. kaufte. Mit seinem taxierten Einkommen lag er Anfang der 1820er Jahre im Mittelfeld der Höxteraner Juden.

Anzeige im Wochenblatt für die Stadt und den Bezirk Höxter, 1808
Anzeige im Wochenblatt für die Stadt und den Bezirk Höxter, 1808

Anscheinend dachte Joel Meyer Blumenthal bereits im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an einen Wegzug aus Höxter, denn schon 1807 versuchte er sein Haus zu verkaufen, und 1812, nach dem Umzug der Synagoge in ein anderes Haus, bot er das eigentlich aus drei Häusern bestehende Gebäude von Neuem in der Zeitung an. Jedoch kam es erst 1816 zum Verkauf des Hauses Westerbachstraße 31, während das Haus Nr. 29 noch 1832 im Besitz seiner Frau Bune („Bonette“) war, bis sie es 1836 verkaufen konnte.

Zu dieser Zeit war Joel Meyer bereits mit der Familie aus Höxter in den Geburtsort seiner Frau nach Hannover gezogen. Jedoch ist über sein Leben dort nichts bekannt, ebenso wenig wie über die Töchter Edel (* 1801) und Hanna (* 1802). Genauere Informationen gibt es dagegen über die anderen drei Kinder.

Die Tochter Zipora (Sophie) (1797–1854) war mit dem aus Polen (damals Russland) stammenden „Schriftgelehrten“ Leiser (Elieser) Rosenthal (1794–1868) verheiratet, „einem Manne, der seiner ungeheuren hebräischen Gelehrsamkeit wegen von der Gemeinde erhalten wurde und lebenslang in der Synagoge wohnte, wo er Tag und Nacht den Talmud studierte, während seine Frau riesige Ofenschirme stickte”, wie Theodor Lessing schreibt. Außerdem sammelte er seltene und wertvolle Bücher, Inkunablen und Handschriften in jiddischer und hebräischer Sprache und andere, die sein Sohn später in Amsterdam stiftete.

Zwei ihrer fünf Kinder starben jung, während die drei anderen in den Niederlanden verheiratet waren, die Tochter Nanni (Hannchen) (1835–1915) mit dem Chemieprofessor Jacob Cohen (* 1832) und ihre Schwester Mathilde (1839–1909) in Amsterdam mit Isaak Abraham Levi (1836–1920). Der Sohn Georg von Rosenthal (1828–1909) gründete in Amsterdam mit einem Compagnon die Bank Lippmann, Rosenthal & Co. Mit seiner Frau Sophie May (1831–1928) und den Kindern lebte er dort als einflussreicher und durch den portugiesischen König geadelter Bankier in der Herengracht und stiftete der Universität und der Stadt Amsterdam die „Rosenthaliana“, die wertvolle Bibliothek seines Vaters, eine der größten ihrer Art in Europa.

Theodor Lessing: Einmal und nie wieder
Theodor Lessing: Einmal und nie wieder

Joel Meyer Blumenthals in Höxter geborener Sohn Meyer Blumenthal (1806–1893) war in Hannover verheiratet, hatte aber keine Kinder. Er war Bankier und wurde als „Hof-Agent“ dort zum Commerzien-Rath ernannt. Sein Bankhaus übernahm später der Bankier Jacob Gans. Meyer Blumenthal führte ein sehr geordnetes Leben, und der bekannte Philosoph, Schriftsteller und Publizist Theodor Lesssing, der ihn als Kind kennen lernte, charakterisiert ihn mit freundlicher Ironie.

Sederteller

Von Meyer Blumenthal stammt möglicherweise ein in der Westerbachstraße 29 aufgefundener Sederteller aus Zinn mit dem von Löwen umrahmten Monogramm MB (מב) auf dem Rand und einer von eingeritzten Kronen gefassten zweiten Inschrift mit dem Namen Chaile (הלײה), einer Verkleinerungsform von Chaya, die später hinzugefügt wurde – vielleicht der Name der Verlobten oder Ehefrau.

Die Informationen zu Meyer Levi wurden entnommen aus: Jörg Deventer, Das Abseits als sicherer Ort? […] Paderborn, 1996.

Fritz Ostkämper, 4.4.2019
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de