Jüdische Bürger in Höxter

Das 1894 von Naphtali und Richard Fränkel bewohnte Doppelhaus in der Gartenstraße 2/4 um 1900 (rechts)
Das 1894 von Naphtali und Richard Fränkel bewohnte Doppelhaus in der Gartenstraße 2/4 um 1900 (rechts)

Die Familie Fränkel – jüdische Bildungsbürger
aus Höxter

Der Name Fränkel ist unter den deutschen Juden verbreitet und weist auf die Herkunft aus Franken hin, wo die im 15./16. Jahrhundert aus Altbayern und den Reichsstädten vertriebenen Juden beim fränkischen Landadel Zuflucht fanden und schon früh in den Dörfern größere jüdische Gemeinden gründeten.

Aus Franken kam auch Salomon Nathan Fränkel (1807–1878), der sich um 1850 in Höxter ansiedelte und das Haus Westerbachstr. 6 kaufte. Er wurde in Urspringen im heutigen Main-Spessart-Kreis als Sohn des dort ansässigen Pferde- und Rindviehhändlers Nathan Faust Fränkel geboren, wo die Familie bereits im 17. Jahrhundert verzeichnet ist. Salomon heiratete um 1840 die in Pyrmont geborene Jeanette Niemann (1813–1906), deren Eltern dort ein Haus führten, in dem z. B. Goethe 1793 bei der Rückkehr von der Kampagne in Frankreich abgestiegen war. Das junge Ehepaar blieb noch für eine kurze Zeit in Pyrmont, wo 1842 der ältere Sohn Naphtali geboren wurde, während der zweite Sohn Richard 1854 nach dem Umzug in Höxter zur Welt kam.

Der Grabstein von Salomon Fränkel, heute eingefügt ihm Ehrenmal des jüdischen Friedhofs
Der Grabstein von Salomon Fränkel, heute eingefügt ihm Ehrenmal des jüdischen Friedhofs

Die Familie Fränkel zählte bis ins 20. Jahrhundert hinein zu den angesehenen und vermögenden Kaufmannsfamilien in Höxter und ist geradezu das Musterbeispiel einer jüdischen Familie des gebildeten, weltoffenen, vielseitig und vor allem auch musisch und künstlerisch interessierten Bürgertum, in der Musik geradezu „endemisch“ war, wie der Enkel Walter berichtet.

Besonders Salomons Frau Jeanette, deren Grabstein noch heute auf dem jüdischen Friedhof in Höxter erhalten ist, repräsentiert dieses Interesse für Musik, Kunst und Literatur. Der Komponist Albert Lortzing hatte als Kurkapellmeister in Pyrmont in ihrem elterlichen Haus gewohnt, und nachdem auch Goethe zweimal dort abgestiegen war, konnte Jeanette ihn mit ihrem Vater 1828 und 1829 in Weimar besuchen, ohne allerdings diesen Besuchen etwas abzugewinnen, wie sich der Enkel Walter erinnert: „Sie sagte, ›Der Geheimbde Rat war jedesmal steif wie ein Besenstiel‹, sodaß sie den Olympier lieber las als ihn persönlich verehrte…“

Auch in Höxter unterhielt Jeanette ihre Kontakte zur Literatur und Kunst. Sie war mit Annette von Droste-Hülshoff bekannt, von der sie Briefe aufbewahrte. Heinrich Hoffmann von Fallersleben pflegte, wenn er im Sommer in die Stadt kam, bei ihr seinen Nachmittagskaffee zu trinken, und ihre Enkel waren befreundet mit dem Maler Joachim Hoffmann von Fallersleben, mit dessen Bildern sie ihre Wohnungen schmückten.

Der Grabstein von Jeanette Fränkel
Der Grabstein von Jeanette Fränkel

Übrigens hatten die Juden im Kreis Höxter einen literarischen Verein, in den sie bekannte jüdische Literaten und Gelehrte einluden. Ihr breites musisches Interesse gab Jeanette auch an ihre Nachkommen weiter. Die ganze Familie sammelte Gemälde, aber auch wertvolle Bücher. Mehrfach fuhr man zu Opernaufführungen nach Hannover, Kassel oder Hamburg. Enkelin Alice wurde Sopranistin. Enkel Walter erhielt Geigenunterricht, und Musik machte „einen wesentlichen Teil meines schöngeistigen Interesses seit vielen Jahrzehnten“ aus, wie er später schreibt.

In Höxter engagierte sich Jeanette Fränkel auch im sozialen Bereich. Sie war Mitbegründerin und erste Vorsitzende des „Israelitischen Frauenvereins“, der 1869 ins Leben gerufen wurde, um bedürftige Mitglieder zu unterstützen, Sterbebegleitung zu leisten, Sterbekleider nach jüdischem Ritus zu nähen u. a. Diese Aufgabe behielt sie bis zum Jahre 1906, als sie im Alter von fast 93 Jahren starb.

Finanziell lebte die Familie offensichtlich in gesicherten Verhältnissen. Die Firma S. Fränkel betrieb in der Westerbachstraße 6 eine Leinenhandlung, die wohl auch im Großhandel tätig war. Zumindest später kamen auch Finanzgeschäfte hinzu, wie entsprechende Zeitungsanzeigen erkennen lassen.

Die Brüder Naphtali und Richard Fränkel

Über den noch in Pyrmont geborenen älteren Sohn Naphtali Fränkel (*1842) ist nicht bekannt, ob er eine höhere Schule besuchte, was bei dem Bildungsanspruch der Familie zu vermuten ist. Er heiratete die aus Scharmbeck stammende Florentine Feith (*1854) und wohnte mit ihr in der Westerbachstraße, wo 1876 und 1877 die Kinder Richard und Margarete (Grete) geboren wurden. Nach dem Tod des Vaters führte er mit seinem Bruder Richard das elterliche Geschäft fort. Er war lange Jahre Vorsteher der jüdischen Gemeinde, und durch seinen Einsatz brachte die Gemeinde die Mittel zusammen, damit der aus einer armen jüdischen Familie in Höxter stammende Samson Hochfeld in Berlin studieren, promovieren und sich zum Rabbiner ausbilden lassen konnte, der später in Frankfurt/Oder, Düsseldorf und Berlin tätig war und sich auch als Gelehrter und Vertreter eines liberalen Judentums einen Namen machte.

Naphtalis jüngerer, in Höxter geborener Bruder Richard Fränkel (1854–1923) besuchte zunächst die damalige Selecta und wechselte 1867 als erster jüdischer Schüler auf das neu gegründete Progymnasium, das er 1870 mit dem Zeugnis der Einjährig-Freiwilligen Reife abschloss. Er machte in Berlin eine Ausbildung zum Bankier und kehrte dann nach Höxter zurück, um mit seinem Bruder Naphtali das elterliche Geschäft weiterzuführen.

Für seine Integration in der Stadt spricht, dass er als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr war und z.B. half, als im Juli 1901 der höhere Turm der Kilianikirche von einem Blitz getroffen und durch einen Brand weitgehend zerstört wurde ebenso wie einige Häuser um die Kirche. 1886 heiratete er in erster Ehe Frieda Friedmann (1866–1890), mit der er in der Westerbachstraße 25 wohnte, und bekam mit ihr 1889 den Sohn Walter und nach ihrem frühen Tod mit seiner aus Hannover stammenden zweiten Frau Else Dux (*1865) 1894 die Tochter Alice.

Die finanzielle Situation der Brüder Naphtali und Richard gestaltete sich auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts offensichtlich weiterhin gut, wozu sicher auch die Geldgeschäfte beitrugen, die vermutlich vor allem der zum Bankier ausgebildete Richard ausübte.

Das  Doppelhaus von Naphtali und Richard Fränkel in der Gartenstraße 2/4 auf einer Entwurfszeichnung
Das Doppelhaus von Naphtali und Richard Fränkel in der Gartenstraße 2/4 auf einer Entwurfszeichnung

1894 mieteten Naphtali und Richard ein 1892 im Stil der Kaiserzeit errichtetes Doppelhaus in der Gartenstraße Nr. 2/4, das sie mit ihren Familien allerdings nur 15 Jahre lang bewohnten, vielleicht auch, weil die Kinder in andere Städte verzogen waren. Beide Brüder zogen 1909 nach Hannover, wo Richard 1923 starb, sein älterer Bruder Naphtali vermutlich bereits vor ihm.

Die Kinder von Naphtali Fränkel

Naphtalis 1876 geborener Sohn Richard Fränkel erhielt den Namen nach seinem Onkel. Er besuchte nach der Vorschule am KWG (1883–1885) das Gymnasium (1885–1894) und ging mit dem Zeugnis der Einjährig-Freiwilligen Reife ab, um Kaufmann zu werden.

Danach absolvierte er in Berlin eine Bankiersausbildung, heiratete Alice Samler (Nichtjüdin) und führte dort als Kaufmann und Häusermakler ein blühendes Geschäft. Trotzdem fühlte er sich weiterhin als Höxteraner und kam oft und z. T. für mehrere Wochen hierher, wo er unter anderem mit dem Fürsten von Ratibor und dem Maler Joachim Hoffmann von Fallersleben, von dem er mehrere Bilder besaß, freundschaftliche Kontakte unterhielt.

Ankündigung der „Naphtali und Florentine Fränkel-Stiftung“, S. 1
Ankündigung der „Naphtali und Florentine Fränkel-Stiftung“, S. 1

Für sein Engagement für seine Geburtsstadt spricht auch, dass er Anfang der 1920er Jahre mehrfach für die Armen der Stadt spendete (wohl auf Vermittlung von Dr. Frankenberg), dass er die Errichtung eines Ehrenmals für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Schüler am KWG finanziell unterstützte und dass er 1923 in Höxter zur Erinnerung an seine Eltern die „Naphtali und Florentine Fränkel Stiftung“ errichtete. Die Erträge sollten jeweils an den Geburtstagen seiner Eltern an „würdige und bedürftige“ Einwohner unabhängig von ihrer Religion ausgezahlt werden. Nur Antisemiten waren ausdrücklich ausgeschlossen. Der tatsächliche Wert der Stiftungssumme lässt sich wegen der rapiden Inflation nicht ermitteln, betrug aber schließlich eine Milliarde Mark. Das Kapital der Stiftung verfiel allerdings durch die Inflation weitgehend.

Im Dritten Reich verlor Richard Fränkel seine Stellung als selbständiger Makler und arbeitete danach als Angestellter. Mehrfache Wohnungsumzüge zeugen von der zunehmenden Verfolgung. Am 28.3.1942 wurde er von Berlin in das Ghetto Piaski (Polen) deportiert. Er ist dort oder in Trawniki verschollen. Das Schicksal seiner Frau ist nicht bekannt.

Richard Fränkel auf der Liste der nach Piaski Deportierten
Richard Fränkel auf der Liste der nach Piaski Deportierten

Naphtalis 1877 geborene Tochter Grete (Margarete) Fränkel heiratete 1899 Hermann Weiler (1870–1933), einen Angehörigen der Familie der Brakeler Getreide-, Saaten-, Futter- und Düngemittelhändler, und lebte bis zu seinem Tod mit ihm in Brakel, wo 1901 der Sohn Kurt geboren wurde. Sie war eine ausgezeichnete Violinistin und bildete in ihrer Jugend zusammen mit drei jungen Höxteranerinnen ein Quartett. Außerdem war sie befreundet mit Joachim Hoffmann von Fallersleben und besaß mehrere seiner Bilder.

Als ihr Mann Hermann 1933 starb, zog sie nach Berlin, wo ja ihr Bruder lebte und wo auch ihr Sohn sich für längere Zeit als Konzertsänger niedergelassen hatte. Denn Grete Weiler gab ihre musikalische Begabung offenbar auch an ihren 1901 geborenen Sohn Kurt weiter, der am KWG die Einjährig-Freiwilligen Reife erlangte und später Konzertsänger (Bassbariton) wurde. Er war ein Schüler von Albert Fischer und studierte unter anderem in Rom Gesang. In der Folge sang er unter Bruno Walter, Otto Klemperer und vor allem unter Max Reger und und war mit dem Komponisten Ottorino Respighi befreundet. Er lebte in dieser Zeit vor allem in Berlin, wo er in der kleinen Kirche von Nikolskoe mit einem Organisten an Samstagnachmittagen Konzerte gab. Im Dritten Reich emigrierte er zunächst nach Johannisburg/Südafrika und dann in die USA. Er starb 1971 in Fairfield/Connecticut.

Seine Mutter konnte oder wollte dagegen nicht emigrieren und blieb in Berlin, wo sie im privaten Rahmen auch gelegentlich noch aufrat, bis sie ebenso wie ihr Bruder Richard am 28.3.1942 nach Piaski deportiert und dann ins Konzntrationslager Trawniki verschleppt wurde. Dort wurde sie am 30.6.1942 ermordet.

Grete Weiler geb. Fränkel auf der Deportationsliste nach Piaski
Grete Weiler geb. Fränkel auf der Deportationsliste nach Piaski

Die Kinder von Richard Fränkel

In diese engagierte, weltoffene und musische Familie hinein wurden auch die Geschwister Walter und Alice Fränkel als Kinder des Kaufmanns Richard Fränkel geboren. Für das Klima im Elternhaus und dafür, wie „deutsch“ man dort fühlte, ist vielleicht ein Zitat Walter Fränkels aus einem Brief von 1961 kennzeichnend:

„Ich bin ein militanter Jude, aber ein völlig areligiöser; so wurde ich schon von meinem Vater erzogen, und er wie ich lebten und leben in der geistigen Welt Goethes; ich seit Goethes 70. Todestag am 22. März 1902, an dem ich 13 Jahre alt wurde und zu meiner Einsegnung – das geschah auf Wunsch meiner 92jährigen Großmutter – meine erste Goethe-Ausgabe geschenkt erhielt.“

Das Zitat erhellt nicht nur, dass sich die Fränkels als deutsche Bildungsbürger sahen, sondern lässt auch erkennen, was es für sie bedeutete, Juden zu sein: durchaus militant, wenn es um die gleichberechtigte Anerkennung der Juden ging, aber liberal oder gar uninteressiert bei religiösen Auseinandersetzungen.

Erinnerungen Walter Fränkels an seine Gedichtrezitationen
Erinnerungen Walter Fränkels an seine Gedichtrezitationen

Walter Kurt Fränkel (*1889) besuchte zunächst die Vorschule am KWG, bis diese 1897 aufgelöst wurde, dann noch für ein Jahr die jüdische Schule in Höxter an der Synagoge in der Nagelschmiedstraße und kam Ostern 1898 auf das Gymnasium. Auffällig oft wurde er bei besonderen Anlässen auserkoren, ein Gedicht zu deklamieren, etwa bei Kaisergeburtstagen in der Aula vor der Schulgemeinde oder bei der Einweihung des Hoffmann von Fallersleben-Denkmals an der Corveyer Allee.

Walter Fränkel 1906 bei der „Primanerkneipe“ vor dem Felsenkeller
Walter Fränkel 1906 bei der „Primanerkneipe“ vor dem Felsenkeller
Walter Fränkel (rechts) 1907 auf dem Abiturfoto
Walter Fränkel (rechts) 1907 auf dem Abiturfoto

Ostern 1907 legte er am KWG das Abitur ab, studierte dann in München, Göttingen und Berlin Medizin und erhielt im Jahre 1914 seine Approbation. Bald danach begann der 1. Weltkrieg, und Walter Fränkel wurde als Bataillonsarzt zur Armee eingezogen. Vor Verdun erhielt er das Eiserne Kreuz I. Klasse; das der II. Klasse hatte er schon vorher bekommen.

Nach dem Krieg ließ er sich in Berlin nieder und heiratete die Filmcutterin Gisela Haßlacher verw. Siber, eine Nicht-Jüdin, durch die er auch bekannte Film-Leute der 1920er Jahre kennen lernte. Er selbst praktizierte als Chirurg und Urologe am Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf und veröffentlichte zahlreiche medizinische, medizinhistorische Aufsätze und beschäftigte sich auch mit den Beziehungen der Medizin etwa mit der Kunst oder Literatur. Als Beispiel mögen zwei Titel dienen: „Die Schwangerschaftsdiagnose aus der Harnschau auf Bildern holländischer Maler des 17. Jahrhunderts“ (1934), „War die Krankheit der Annette von Droste-Hülshoff eine Tuberkulose?“ (1933).

Walter Fränkel war als Arzt in den Jahren der Weimarer Republik recht erfolgreich und konnte eine Sammlung kostbarer Werke aus Kunst und Literatur anlegen. Dazu zählten neben Gemälden von Joachim Hoffmann von Fallersleben auch Werke von Pechstein, Kirchner, Schmitt-Rotluff sowie Kupferstiche von Dürer oder ein Original von Schedels Weltchronik und andere seltene Bücher.

Nach Höxter kam Walter Fränkel in diesen Jahren nur selten. Bekannt ist aber, dass er seinen Freund Dr. Richard Frankenberg 1923 für drei Wochen während dessen Urlaub vertrat und in dieser Zeit viele alte Kontakte und Erinnerungen auffrischte.

Über die Situation der Fränkels in den ersten Jahren des Dritten Reiches ist bisher nichts bekannt. Walter Fränkel blieb wohl bis zum Jahr 1938 noch relativ unbehelligt, weil er mit einer „arischen“ Frau verheiratet und darüber hinaus Träger des Eisernen Kreuzes war. Denn die jüdischen „Frontkämpfer des Weltkriegs“ wurden zunächst noch geschont. Spätere Briefe zeigen aber, welch groteske Situationen sich ergaben:

„Im Jahre 1937 erhielt ich noch den Vaterlandsverteidiger-Orden, gestiftet vom alten Hindenburg, in einer Zeremonie auf dem zugehörigen Polizeirevier mit allen militärischen Ehren und mit einer Urkunde (noch ohne ›Israel‹) und gezeichnet ›mit Dank für die Verteidigung des Vaterlandes: Der Reichskanzler Adolf Hitler‹. Meine Frau erhielt es auch, weil ihr erster Mann als junger Leutnant bei den Franzern im Juli 1918 gefallen war […]. Trotzdem hat man mich ebenso wie Tausende von andern jüdischen Akademikern am Abend des 10. Nov. 1938 verhaftet, aber wegen des EK I ließ man mich am nächsten Mittag zusammen mit fünf andern Herren mit EK I frei.“

Walter Fränkel war noch einmal davongekommen. Er wusste jedoch, dass seines Bleibens nicht länger war, und es gelang ihm, Auswanderungspapiere für die Philippinen zu erhalten. Bei seiner Flucht ins Exil konnte er sogar seine Sammlung mitnehmen: die Briefe der Droste an seine Großmutter, seine Bilder von Pechstein, Kirchner, Schmitt-Rotluff, Hoffmann, die Schedelsche Weltchronik u.a.

Am 20. Febr. 1939 kamen Dr. Walter Fränkel und seine Frau Gisela mit der „Scharnhorst“ in Manila an, wo sie in den nächsten sechs Jahren in relativer Ruhe in Pax Court No 176-D in einem Komplex von Doppelhäusern lebten, während Walter Fränkel bis 1945 als Dozent für Geschichte der Medizin an der Uiversität lehrte.

Dre Monate nach ihrem Bruder emigrierte auch seine Schwester Alice Fränkel (*1894) auf die Philippinen, wo sie zusammen mit Walter und Gisela Fränkel in Pax Court lebte. Sie heiratete einen Amerikaner namens Stahl, der jedoch in japanische Gefangenschaft geriet, als die Japaner die Philippinen besetzten.

Alice Fränkel hatte nach ihrem Schulbesuch eine Gesangsausbildung als Sopranistin (Oper) gemacht und war später in Solingen und in Trier engagiert gewesen. Von der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bis 1934 hatte sie dann ein festes Engagement bei der Westdeutschen Funkstunde, Vorgängerin des WDR, wo sie die Sopran- und Koloratur-Partien übernahm. 1934 verlor sie ihr Engagement durch die Verdrängung jüdischer Kulturschaffender im Dritten Reich und trat danach nur noch im privaten Rahmen oder bei kleineren Konzerten in Berlin auf, wo ja auch ihr Bruder lebte. Schließlich folgte sie ihm im Mai 1939 auf die Philippinen.

Nachdem die ersten knapp drei Jahre für die Fränkels noch relativ ruhig gewesen waren, fielen Anfang 1942 japanische Truppen auf die Philippinen ein, und für die folgenden drei Jahre mussten die Fränkels sich diesen neuen Herren unterordnen. Bei der Rückeroberung der Philippinen durch amerikanische Truppen musste Walter Fränkel dann den schwersten Schlag erleiden. Er verlor nicht nur sein Haus und seine Sammlung wertvoller Bilder und Bücher, sondern seine Frau wurde ermordet, als die Japaner sein Haus besetzten und die Familie zur Ermordung in ein anderes Haus trieben. Fränkel schreibt später in einem Brief:

„[Ich war im Besitz] einer Sammlung seltener Bücher, die ich mit nach Manila nehmen konnte, wo sie dann bei der sinnlosen Zerstörung meines Hauses am 12. Febr. 1945 durch die Japaner unterging mit allen meinen Sammlungen; das war aber doch nichts im Vergleich zu der Ermordung meiner geliebten Frau, die gefesselt an meiner Brust lag, während ich selbst merkwürdiger Weise dem Tod entging, weil die Flammen die Mörder aus dem brennenden Hause trieben.“

Aussage Walter Fränkels vor der amerikanischen Militärbehörde, S. 1
Aussage Walter Fränkels vor der amerikanischen Militärbehörde, S. 1

Am 12. Febr. 1945 kam es nämlich in der Nähe der Wohnung zu Kämpfen. Da die Fränkels von den Japanern bisher im Wesentlichen unbehelligt geblieben waren, öffnete Fränkel auf ein Klopfen arglos die Tür und zeigte den japanischen Soldaten seinen auf Englisch und Japanisch ausgestellten Pass. Der Sergeant sagte nur „Judasi“ [Jude], und Fränkel wurde mit Frau Gisela und Schwester Alice zum Zentrum der Wohnsiedlung geführt, wo schon andere Bewohner zusammengetrieben waren. Ohne ein Wort wurden den sechs Deutschen und 13 Philippinos, auch den sechs Kindern, die Hände auf den Rücken gefesselt, und sie wurden in das Wohnzimmer eines der Häuser getrieben und gezwungen sich hinzuknien. Fränkel, der wegen eines vor Jahren gebrochenen Beins nicht knien konnte, legte sich auf die Seite und sah alles, was die Japaner taten, die nach der Devise „kill all, burn all, destroy all“ vorgingen.

Zwei der Japaner schoben Möbel hinter den Knienden zusammen, häuften Kissen, Polster und einen Strohsack darauf und gossen Benzin darüber. Dann zog der Sergeant eine Handgranate aus der Brusttasche, entsicherte sie und warf sie in den Raum, wo sie eines der Opfer sofort tötete. Nach der Explosion zündeten zwei Soldaten den Haufen Möbel und Kissen an und stellten sich mit in das Zimmer gerichteten Gewehren davor.

Eine der Frauen rief zweimal „Tomodachai“ [japanisch: Freund], und ein Soldat schoss ihr durch den Kopf. Dr. Lührse, einer der Deutschen, flüsterte, es wäre besser erschossen zu werden, als lebendig zu verbrennen. Fränkels Frau Gisela hob den Kopf, sagte „Mein Gott“ und bekam einen Schuss in den Nacken, der sie sofort tötete.

Zusammenfassung der Aussage von Alice Stahl (irrtümlich 20.3. statt 12.3.)
Zusammenfassung der Aussage von Alice Stahl (irrtümlich 20.3. statt 12.3.)

Als fast der ganze Raum brannte, zogen sich die Japaner zurück. Einer der jungen Phillippinas, die neben Fränkel kniete, gelang es, seine Fesseln zu lösen, und er tat dasselbe bei ihr. Er sagte ihr und einer anderen, die auch ihre Fesseln gelöst hatte, sie sollten nach oben laufen und vom Balkon springen. Beide kamen jedoch gleich mit brennenden Kleidern wieder herunter. Darauf ergriff Fränkel seine noch gefesselte Schwester Alice, zog sie hoch und sprang mit ihr durch das Feuer zu einer Tür zum kleinen Innenhof. Dr. Lührse, noch gefesselt, wollte mit seiner Tochter Jutta dasselbe tun, fiel jedoch mit ihr in die Flammen. Er rappelte sich hoch und auch den beiden gelang die Flucht. Fränkel hatte inzwischen aus der Küche ein Messer geholt und durchschnitt allen die Fesseln. Diese vier waren die einzigen vorläufig noch Lebenden, Alice und Dr. Lührse mit schweren Brandwunden und Jutta schwer durch den Rauch vergiftet.

Da sie fürchteten zu ersticken, flohen sie auf das gegenüberliegende Grundstück und dort in den Luftschutzraum. Das ganze Massaker hatte nur eine halbe Stunde gedauert, war jedoch noch nicht zuende, denn die achtjährige Jutta starb am nächsten Morgen an der Rauchvergiftung. Die drei Überlebenden blieben noch bis zum Nachmittag des 13. Febr. in ihrem Versteck, bis eine amerikanische Patrouille kam.

Fränkel bei der Zeugenaussage
Fränkel bei der Zeugenaussage

Die Überlebenden des Massakers fanden Schutz bei den inzwischen herangerückten Amerikanern. Walter Fränkel verbrachte die folgenden Monate in einem Evakuierungslager und konnte durch seine Aussagen dazu beitragen, dass der verantwortlichen japanische General Yamashita im Prozeß zum Tode verurteilt wurde. Ein Ausschnitt aus der Anhörung Fränkels ist im Internet zugänglich.

Bitte des Stiefsohns Jochen Siber um eine Zweitschrift des Abiturzeugnisses für Walter Fränkel
Bitte des Stiefsohns Jochen Siber um eine Zweitschrift des Abiturzeugnisses für Walter Fränkel

Die traurigen Erlebnisse in Manila veranlassten Walter Fränkel Anfang 1946 zur Auswanderung, in die USA. Dort arbeitete er zunächst als Chirurg und Urologe in Fort Dix und ab 1950 als Medical Officer in Newark, einer Stadt nahe bei New York. Diese Tätigkeit gab er auch nicht auf, als er eigentlich bereits die Altersgrenze überschritten hatte. In einem Brief von 1962 heißt es:

„Nun muß ich mich damit bescheiden, Medical Officer in Piccatinny Arsenal zu sein. Es ist ein ganz behaglicher, financiell gesicherter und ganz gut bezahlter Beruf, der mir Zeit läßt, während meiner Dienststunden oft viel zu lesen […]. Trotzdem ich am 22. März 73 Jahre alt wurde, wühlt es aber doch immer in mir, daß meine besten Kräfte eigentlich brach liegen.“

Er blieb deshalb auch in seinen USA-Jahren immer voller Aktivität. Davon zeugen Veröffentlichungen, die von neuem die Spannbreite seines Wissens und seiner Interessen zeigen. Er schrieb z.B. Aufsätze zur Medizingeschichte, etwa über Paracelsus oder über die Einführung der allgemeinen Narkose in Deutschland, oder auch über, so ein Titel, „Ärzte als Musiker und Komponisten“, wo er möglichen Zusammenhängen zwischen der „Symphonie pathétique“ und der Tätigkeit Hector Berlioz’ als Arzt nachging.

Dazu kam ein vielfältiges gesellschaftliches Engagement. So warnte er schon früh vor den Gefahren der Umweltverschmutzung etwa durch Auspuffgase, indem er auf das deutlich häufigere Auftreten von Lungenkrebs bei den Einwohnern der Städte im Vergleich zur Landbevölkerung hinweis und demgegenüber im Rauchen eine geringere Gefahr sah.

Weiterhin versucht er sich auch in die damalige Diskussion um die Auswirkungen der Atom- und Wasserstoffbombenversuche einzuschalten und wies auf die Rolle des radioaktiven Jod 131 im „fall out“ hin. In diesem Sinne diskutierte er brieflich mit Edward Teller, dem sog. „Vater der Atombombe“, der die Gefahren bestritt und schließlich die Diskussion einfach abbrach.

Die besondere Liebe Walter Fränkels aber gehörte – immer noch und trotz allem – der deutschen Kultur und Literatur. Allein in den Jahren von 1948 bis 1962 hielt er mehr als 20 Vorträge im New Yorker deutschsprachigen „Literarischen Verein“, Vorträge etwa über die Droste, über „Münchhausen aus Bodenwerder“, zum 150. Todestag von Heinrich von Kleist, über Metternich, Meyerbeer oder zum 150. Geburtstag von Fritz Reuter über „Plattdeutsch und plattdeutsche Dichter“.

Auch den Kontakt zu Höxter und zu seinem alten Gymnasium nahm er wieder auf, wie ein ausführlicher Briefwechsel der Jahre 1960-1963 dokumentiert. Eines aber wollte er nicht, einen Besuch in Deutschland machen, wozu er eingeladen wurde; dazu saßen ihm die Nazi-Gräuel zu tief im Herzen. Walter Kurt Fränkel starb im März 1967 in New York.

Naturalisierung von Alice Stahl
Naturalisierung von Alice Stahl

Seine Schwester Alice Stahl war bereits zwei Monate nach dem Massaker im April 1945 in die USA gefahren, wo sie 1949 in Los Angeles naturalisiert wurde. Über ihr Leben dort ist nichts weiter bekannt. Sie starb mehr als 15 Jahre nach Ihrem Bruder im April 1984 in Los Angeles.

  • Dr. med. Walter Kurt Fränkel, seine Passion und seine Passionen (Briefe). In: OMNIBUS. Nachrichtenblatt der Vereinigung der ehemal. Schüler des König Wilhelm-Gymnasiums in Höxter e.V. Nr. 42-46 [AF], Weihnacht 1962, S. 30-39
  • Der Aufsatz „Dr. med. Walter Kurt Fränkel, seine Passion und seine Passionen“ und sein Echo. In: OMNIBUS. Nachrichtenblatt der Vereinigung der ehemal. Schüler des König Wilhelm-Gymnasiums in Höxter e.V. Nr. 47-51 [AF], Weihnacht 1963, S. 21-23
  • Frank Ephraim: Escape from Nazi Tyranny to Japanese Terror. University of Illinois Press, 2003, S. 153-155
Fritz Ostkämper, 1.10.2017
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de