Jüdische Bürger in Höxter

Links das heute verschwundene Wohn- und Geschäftshaus Rosenstern in der Grubestraße (=Corbiestraße) um 1910
Links das heute verschwundene Wohn- und Geschäftshaus Rosenstern in der Grubestraße (=Corbiestraße) um 1910

Die Familie Rosenstern-Dreifuss

Schon spätestens um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird in Fürstenau die Familie Rosenstern genannt. Von ihr zeugen noch heute sechs Grabsteine auf dem dortigen jüdischen Friedhof. (siehe Jüdischer Friedhof in Fürstenau)

Joseph Abraham (* 1763), der erste namentlich bekannte Vorfahr der Familie, hatte mit seiner Frau Fanni Friedrike (1759–1825) außer der Tochter Sara (* 1795), über nichts weiter bekannt ist, die Söhne Abraham (1797–1867), Aron (1799–1867) und Nathan (1801–1876). , die alle in Fürstenau blieben, nachdem die Familie 1808 den Namen Rosenstern angenommen hatte. Aron Rosenstern lebte mit seiner Frau Julie Löwenstein (1802–1870) und den Kindern in Fürstenau Nr. 111, Nathan Rosenstern heiratete Julies Schwester Minna (Minchen) Löwenstein (1810–1874) und wohnte mit der Familie in Fürstenau Nr. 101, während Abraham Rosenstern unverheiratet bei seinem Bruder Aron im Haus lebte.

Die Familie verdiente ihren Lebensunterhalt offensichtlich im Handels- und Kaufmannsgewerbe und konnte anscheinend zu den wohlhabenderen Juden gezählt werden. So waren die Brüder Aron und Nathan Rosenstern um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Lage, für ihre zusammen acht Kinder einen Hauslehrer anzustellen. Um diese Zeit war Aron Rosenstern Vorsänger in der Synagoge und fungierte als einer der Delegierten der jüdischen Gemeinde. Nach dem Tod der drei Brüder erlosch die Familie um 1875 in Fürstenau, da die Nachkommen in andere Orte verzogen.

Joseph Rosenstern und seine Kinder

So ließ sich auch 1878/79 der in Fürstenau geborene Joseph Rosenstern (1837–1914), Sohn von Nathan, bald nach seiner Heirat (1877) mit der aus Beckum stammenden Sara Windmüller (1855–1903) in Höxter als Kaufmann nieder und eröffnete in der Nicolaistraße 2 ein Geschäft für Manufactur & Modewaren. Das Ehepaar bekam vier Kinder, Nathan Max (* 1878 Fürstenau), Minna (* 1879 Höxter), Clara (Claire) (* 1880 Höxter). Das jüngste Kind (noch namenlos) verstarb 1885 bereits am Tag nach der Geburt.

Die Grabsteine von Joseph und Sara Rosenstern, ersterer eingefügt im Gedenkmal, der andere frei stehend
Die Grabsteine von Joseph und Sara Rosenstern, ersterer eingefügt im Gedenkmal, der andere frei stehend
Berliner Tageblatt, 5.2.1914
Berliner Tageblatt, 5.2.1914

Joseph Rosenstern diente dem Vaterland als „guter Deutscher“ in drei Kriegen (1864 im deutsch-dänischen Krieg, 1866 im sog. Deutschen Krieg zwischen Preußen und Österreich sowie 1870/71 im deutsch-französischer Krieg), wie noch sein Grabstein stolz verkündet. Bekannt ist außerdem, dass er im deutsch-dänischen Krieg an der Erstürmung der Düppeler Schanzen beteiligt war und dafür das „Düppelkreuz“ erhielt.

Die neuen Fassaden des Hauses auf einer Entwurfszeichnung
Die neuen Fassaden des Hauses auf einer Entwurfszeichnung

Joseph Rosenstein war mit seinem Geschäft offensichtlich so erfolgreich, dass er das Haus 1888 zu beiden Straßenseiten hin im Stil der Zeit mit einer repräsentativen Fassade schmücken lassen konnte.

Bis ins 20. Jahrhundert konnte Joseph Rosenstern das Geschäft weiterführen, unterstützt von seiner Tochter Minna, bis diese es nach ihrer Heirat zusammen mit ihrem Mann Max Dreifuss ganz übernahm.

Nathan Max Rosenstern

Max Rosenstern 1888, 1891 und 1894 als Schüler des KWG
Max Rosenstern 1888, 1891 und 1894 als Schüler des KWG

Max Rosenstern war der älteste und einzige Sohn der Familie. Sicherlich auch deshalb erhielt er eine höhere Ausbildung und besuchte von 1887 bis zu seinem Abitur 1896 das König-Wilhelm-Gymasium in Höxter, um danach Jura zu studieren, und zwar anscheinend in Göttingen, wo er 1901 mit seiner Dissertation über „Das Börsengesetz und seine Umgehung. Ein Beitrag zur Lehre von den Börsentermingeschäften“ zum Dr. jur. promovierte.

Max Rosenstern (stehend, 2. v. links) 1896 beim Abitur
Max Rosenstern (stehend, 2. v. links) 1896 beim Abitur

Sein Referendariat absolvierte er (zumindest unter anderem) in Duisburg, wo er sich 1902 auch als Rechtsanwalt und Notar niederließ und zusammen mit seinem Kollegen Dr. Siegfried Rottenstein auf der Königstr. 26/28 eine offensichtlich florierende Praxis betrieb. Er wohnte seit 1912 in der Hindenburg-Straße (heute Kardinal-Galen-Straße) 39 und war mit der aus Wien stammenden katholischen Schauspielerin Mathilde (Thilde) Luxbacher (* 1892) verheiratet, die bei der Heirat zum Judentum übertrat. Die Ehe blieb kinderlos.

Max Rosenstern starb mit noch nicht einmal 50 Jahren im Oktober 1926 in Duisburg. Die Trauerfeier fand vier Tage später im Krematorium Krefeld statt.

Seine Frau Thilde blieb in den folgenden Jahren in Duisburg. Erst 1939, als die Verfolgung der Juden nach und nach den Höhepunkt erreichte, nahm sie wieder ihren Geburtsnamen an, trat wieder zum Katholizismus über und zog im Juli 1939 in ihre Geburtsstadt Wien zurück, wo sie 1944 starb.

Aus: Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden. Duisburg, 1986, S. 362
Aus: Günter von Roden: Geschichte der Duisburger Juden. Duisburg, 1986, S. 362

Noch zwei Tage vor seinem Tod hatte Max Rosenstein am 5. Okt. 1926 aus seinem Vermögen eine dem Jüdischen Waisenhaus für Rheinland und Westfalen angegliederte Stiftung mit dem Zweck der „Ausbildung junger, unbemittelter Menschen, ohne Unterschied der Konfession, zu einem Lebensberuf, insbesondere zur Landwirtschaft“ errichtet. Bevor die Stiftung allerdings drei Jahre später 1929 endlich wirksam werden konnte, musste noch die Hilfsbedürftigkeit der beiden jüngeren Schwestern festgestellt werden.

Claire Rosenstern, verh. Rosenbaum

Claire (Clara) (1880–1937), die jüngste Schwester, war in Paderborn mit dem Kaufmann Robert Rosenbaum (1880–1938), Inhaber eines Großhandels für Hüte und Pelze, verheiratet und lebte damit in gesicherten Verhältnissen. Zwei Kinder starben nach wenigen Wochen, ein weiterer Sohn mit 21 Jahren. Auch die Eltern Claire und Robert Rosenbaum starben relativ jung mit nicht einmal 60 Jahren. Die jüngste Tochter Gerda (* 1919) dagegen floh mit ihrem Mann Erich Reichenberg in die USA, wo die Familie den Namen Rich annahm und zwei Töchter hatte.

Minna Rosenstern, verh. Dreifuss

Die ältere Schwester Minna Rosenstern (1879–1962) führte das Geschäft ihrer alten Eltern in der Nicolaistr. 2 in Höxter weiter, vor allem nachdem 1903 die Mutter Sara gestorben war. 1907 heiratete sie Max Dreifuss (* 1872), der aus einer seit langem in Nonnenweier (Baden) ansässigen Familie stammte, und dieser trat ebenfalls in das Geschäft der Familie ein. Das Ehepaar hatte drei Töchter Grete (* 1908), Erna (* 1910) und Ilse (* 1912).

Anzeige vom 13.3.1915
Anzeige vom 13.3.1915

1914 starb Minnas Vater Joseph Rosenstern, und das Geschäft in Höxter wurde auch nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Joseph Rosenstein Nachfahren von Max Dreifuss und seiner Frau weiterbetrieben.

Beschädigte Zeitungsanzeige vom 5.7.1924
Beschädigte Zeitungsanzeige vom 5.7.1924

Vor allem wohl wegen des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden Krisen begann das Geschäft herabzusinken, wurde aber von Max und Minna Dreifuss bis in die Weimarer Republik fortgeführt. Dann jedoch geriet die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten, vermutlich im Zuge der sich ankündigenden Weltwirtschaftskrise, und 1926 musste Max Dreifuss Konkurs anmelden und scheint danach Höxter verlassen zu haben.

Seine Frau Minna musste jetzt allein für ihren Lebensunterhalt und den der drei Töchter sorgen. Sie vermietete die Ladenräume mit der Werkstatt und den Nebenräumen sowie einen Teil der Wohnung an den Kaufmann Sommer. Außerdem fiel ihr ein Anteil aus dem Nachlass ihres im selben Jahr 1926 gestorbenen Bruders Max zu, so dass die finanzielle Existenz bis weit in das Dritte Reich hinein gesichert war.

Im Zuge der Arisierung musste Minna Dreifuss 1939 das Haus verkaufen, das von dem Kaufmann Wilhelm Sommer übernommen wurde, der bereits Mieter eines Ladens war. Minna Dreifuss konnte noch nach Kriegsbeginn im Juli 1940 ebenso wie ihre drei Töchtern und deren Familien in die USA emigrieren. Unbekannt ist, aus welchen Gründen solch eine späte Auswanderung noch möglich war.

Über das weitere Leben von Minna Dreifuss, geb. Rosenstern, und ihrer drei Töchter gibt nur bruchstückhafte Informationen. Ein Brief Minnas aus dem Jahr 1961 an die Stadt Höxter belegt aber, dass sie sich auch aus der Ferne um die Gräber ihrer Eltern sorgte. Sie starb im Juli 1962 in New York. Nachkommen ihrer Töchter leben noch heute in den USA.

Die älteste Tochter Grete Dreifuss (* 1908), die den Beruf der Buchhalterin erlernt hatte, zog 1926 nach Paderborn und heiratete Gustav Strauss, mit dem sie die Tochter Ruth bekam, deren drei Kinder in den USA geboren wurden.

Die zweite Tochter Erna (1910–2007) wohnte von 1927 bis 1933 in Bielefeld. Sie heiratete 1936 Josef Rothschild (1892–1981) aus Schaafheim und lebte mit ihm in Duisburg, wo er eine Fabrik für Herrenwäsche betrieb, bis die Familie 1936/37 über Holland in die USA emigrierte. Die drei Kindern ihres Sohns John Jacob (1938–2010), der noch in Deutschland geboren wurde, leben mit ihren Familien noch heute in den USA.

Die jüngste Tochter Ilse (* 1912) meldete sich (meistens für kürzere Zeiträume) in andere Städte um (Frankfurt, Bünde, Harleem/NL, Erfurt, Bielefeld, Paderborn). Sie heiratete den aus Frankenau stammenden Michael Plaut (1906-1990), mit dem sie in die USA emigrierte, wo die drei Kinder, die Enkel und Urenkel heute noch leben.

Max Dreifuss

Max Dreifuss wurde am 2.7.1872 als Sohn von Meier Dreifuss und Zierle Wertheim in Nonnenweier/Baden geboren. 1907 heiratete er Minna Rosenstern führte mit ihr das Geschäft in Höxter bis zum Konkurs 1926 fort. Bald danach scheint er Höxter verlassen zu haben, meldete sich allerdings erst 1932 offiziell nach Mannheim um.

Aus unbekannten Gründen, vielleicht nach den ersten Verfolgungen, ging er bereits im Oktober 1933 nach Frankreich, was sich für ihn anbot, denn Mannheim wie sein Geburtsort Nonnenweier liegen nahe der deutsch-elsässischen Grenze. Ob er in der Folgezeit zu Besuchen nach Höxter zurückkehrte oder ob die Trennung von Frau und Kindern endgültig war, lässt sich bisher nicht ermitteln. Später lebte er in Paris.

Quittung über 295 FF (http://bdi.memorialdelashoah.org)
Quittung über 295 FF (http://bdi.memorialdelashoah.org)
Max Dreifuss (Nr. 271) auf der Deportationsliste nach Auschwitz
Max Dreifuss (Nr. 271) auf der Deportationsliste nach Auschwitz

Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazi-Truppen fiel er auch dort der nazistischen Judenverfolgung zum Opfer. Zunächst wurde er am 22.1.1944 im berüchtigten Sammellager Drancy interniert und am 3.2.1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Fritz Ostkämper, 1.4.2015
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de