Jüdische Bürger in Höxter

Die Westerbachstraße in Höxter um 1930 (mit Pfeil: die ehemalige Metzgerei Neuberg)
Die Westerbachstraße in Höxter um 1930 (mit Pfeil: die ehemalige Metzgerei Neuberg)

Familie Neuberg, Pferdehändler und Metzger

Zwar wird bereits um die Wende zum 19. Jahrhundert in Höxter ein aus Nieheim stammender Salomon Isaak Neuberg (1743–1824) mit seiner Frau Guthe Ruben (* 1758) und dem in Höxter geborenen Sohn Robert (* 1786) genannt, jedoch ist bisher nicht bekannt, ob diese Familie vielleicht mit der Pferdehändler- und Schlachterfamilie Neuberg verwandt war, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Höxter verzeichnet wird. Die Vorfahren der späteren Höxteraner Familie Neuberg lebten vielmehr in Peckelsheim, wo Jesaias Neuberg (1802–1863) mit seiner Frau Röschen Seehoff als Fleischer den Lebensunterhalt der Familie verdiente.

Salomon Neuberg und seine Kinder

Ihr Sohn Salomon Neuberg (1839–1909) heiratete 1866 die in Ovenhausen geborene Rica Lewo (1840–1899) und ging mit der Heirat ebenfalls nach Ovenhausen, wo Ricas Vater Isaak um 1840 mit 5 Morgen, 18 Ruten und 30 Fuß den größten jüdische Landbesitz besaß, den er 1841 noch um weitere Landstücke vergrößerte. All diese Grundstücke fielen nach dem Tod des Vaters an die Tochter Rica und ihren Mann Salomon Neuberg.

Die Neubergs als Pferdehändler und Kaufleute im Berliner Adressbuch von 1918
Die Neubergs als Pferdehändler und Kaufleute im Berliner Adressbuch von 1918

Salomon Neuberg betrieb im Haus Ovenhausen Nr. 19 für wenige Jahre einen Pferdehandel und war dort auch kürzere Zeit Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Um 1870 zog er mit seiner Familie nach Höxter, wo er etwa zehn Jahre lang in der Neuen Straße 13/15 seinen Pferdehandel fortsetzte und in diesem Zeitraum den Grundbesitz in Ovenhausen veräußerte.

So hatte er die Mittel, 1880 nach Berlin zu gehen, um dort in der Lehrter Straße wiederum einen Pferdehandel zu eröffnen, in den in den folgenden Jahrzehnten (mindestens) auch zwei Söhne, ein Schwiegersohn und ein Neffe eintraten. Mehr als fünfzig Jahre lang florierten die Geschäfte, bis der Pferdehandel Neuberg 1939 im Dritten Reich geschlossen werden musste und aus dem Adressbuch verschwand.

Abgangszeugnis des KWG für Jesaias Neuberg
Abgangszeugnis des KWG für Jesaias Neuberg

Salomon und Rica Neuberg hatten elf Kinder, die in Ovenhausen, Höxter und Berlin zur Welt kamen. Sieben von ihnen wurden tot geboren oder starben als Kleinkinder. Der in Ovenhausen geborene älteste Sohn Jesaias Julius (1866–1920) besuchte nach der Vorschule am KWG bis 1880 das Gymnasium (VI–UIII) und zog dann mit den Eltern nach Berlin, um dort auf eine Realschule zu wechseln. 1894 trat er offiziell in das Geschäft seines Vaters ein. Er heiratete die aus Frankfurt stammenden Anna Adele van Bloeme (1875–1926) und hatte mit ihr die Kinder Mathilde (Tilly) (1896–1978), Lucie Katharina (ca. 1897 – 1966) und Wilhelm (1898–1955), die alle mit ihren Famlien im Dritten Reich nach Palästina bzw. England emigrieren konnten.

Schon vor Salomons Sohn Jesaias war bereits 1893 der aus Bergheim stammende Schwiegersohn Abraham Eisenstein (1862-1933) in das Geschäft eingetreten, der Salomon Neubergs in Höxter geborene Tochter Emma (1872-1943) geheiratet hatte, und nach seinem Tod trat auch sein Sohn Julius (* 1894) als Mitgesellschafter in die Pferdehandlung ein. Dieser konnte bis 1944 in der Illegalität überleben, wurde aber nach seiner Denunziation am 9.3.1944 zur Ermordung nach Auschwitz deportiert, nachdem die Mutter Emma schon am 14.9.1942 nach Theresienstadt verschleppt worden und dort am 23.3.1943 umgekommen war. Von den anderen fünf Kindern Abraham Eisensteins überlebte die Tochter Irma (1900–1996) mit ihrem Mann, dem Tierarzt Dr. Ludwig Simon (1877–1956), im Versteck in Berlin [1], während sich ihre Geschwister Paula (1893–1977), Hilda (1896–1990) und Fritz (1902–1977) 1939/40 ins Exil retten konnten. Über ihren Bruder Kurt ist nichts bekannt. [1]

Die jüngsten Söhne Salomon Neubergs wurden in Berlin geboren. Während über den Sohn Leopold (1887–1930) nur bekannt ist, dass er in Berlin-Wilmersdorf eine Fabrik betrieb, war sein Bruder Max (* 1883) bis 1938/39 Mitinhaber der Pferdehandlung. Er wurde nach der Pogromnacht 1938 mit drei Neffen (wohl Julius, Kurt und Fritz Eisenstein) für einige Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Danach wurden sie alle mit ihren Familien dank der Hilfe von Geheimdienstdiplomaten der englischen Botschaft mit Visa zur Einreise nach Neuseeland ausgestattet und wanderten 1939 dorthin aus.

Abraham Neuberg und seine Kinder

Auch Salomons jüngerer Bruder Abraham (1842–1914) verließ seinen Geburtsort Peckelsheim Anfang der 1870er Jahre und siedelte sich mit seiner aus Beverungen stammenden Frau Sophie, geb. Rosenstein (1834–1905) 1881 in der Papenstraße 16 und danach 1887 in der Westerbachstraße 12 in Höxter an, wo er in den folgenden Jahrzehnten eine Schlächterei betrieb.

Todesanzeige für Abraham Neuberg (Huxaria)
Todesanzeige für Abraham Neuberg (Huxaria)

Bald nach 1900 gab er die Fleischerei auf. 1905 starb seine Frau Sophie und wurde auf dem jüdischen Friedhof begraben. Er verkaufte das Haus an den aus Beverungen stammenden Simon Himmelstern, der im Haus wieder eine Metzgerei betrieb, zog zu seiner in Hannover verheiraten Tochter Johanna und starb dort 1914, wurde aber nach seinem Tod (sicher neben seiner Frau) in einem für ihn frei gehaltenen Grab auf dem jüdischen Friedhof in Höxter bestattet.

Julius Neuberg 1885 in der Sexta des KWG
Julius Neuberg 1885 in der Sexta des KWG

Das Ehepaar hatte vier Kinder, von denen der Sohn Mordechai (* 1870) aber offenbar schon bald starb. Der Sohn Julius Jesaias (1875–1943) besuchte zunächst die jüdische Schule in Höxter und ging dann 1884 auf das KWG über. Am Ende der Quinta schickten die Eltern ihn 1887 nach Berlin, wo er auf eine Realschule wechselte und in der Familie seines Onkels Salomon wohnte.

Danach kehrte er für einige Jahre nach Höxter zurück, um als Schlachtergeselle seinen alt werdenden Vater im Geschäft zu unterstützen, eine Zeit, die er nutzte, um „mit allen Dienstmädchen mehr oder minder zarte Beziehungen“ zu pflegen, wie der ebenfalls aus Höxter stammende Walter Fränkel erzählt [2]. Nach dem Tod der Eltern und dem Verkauf der Fleischerei in Höxter ging er wieder nach Berlin und war dort „im Geschäft seines Onkels einer der elegantesten Flaneure“ (Fränkel). Offenbar trat er (vielleicht nach dem Tod seines gleichnamigen Vetters) ebenfalls in den Pferdehandel ein.

Autopsiebericht nach dem Tod von Julius Jesaias Neuberg in Theresienstadt
Autopsiebericht nach dem Tod von Julius Jesaias Neuberg in Theresienstadt

Er blieb unverheiratet und erscheint später in den Berliner Adressbüchern als Kaufmann und dann als Rentier, ohne dass darüber bisher genauere Informationen vorliegen. Er wurde am 25.6.1942 mit seinem Bruder Salomon nach Theresienstadt deportiert und gab sich dort knapp vier Wochen später am 19.7.1942 mit einem Schlafmittel selbst den Tod.

Salomon Neuberg 1885, 1888, 1891 als Schüler am KWG und 1894 beim Abitur
Salomon Neuberg 1885, 1888, 1891 als Schüler am KWG und 1894 beim Abitur

Sein jüngerer Bruder Salomon Neuberg (1876–1943) besuchte ebenfalls zunächst die jüdische Schule in Höxter und war dann ab 1885 Schüler des Gymnasiums. Er ging 1894 mit dem Abitur ab, um dann Medizin zu studieren. 1898 promovierte er an der Universität in Bonn zum Dr. med. und zog bald danach nach Berlin, wo er in den folgenden Jahrzehnten als „angesehener Arzt“ praktizierte und von seinem ehemaligen Mitschüler als „im Gegensatz zu seinem Bruder Julius ein sehr feiner Mann“ (Fränkel) beschrieben wird. Im Ersten Weltkrieg war als Stabsarzt in einem Reservelazarett eingesetzt.

Stolpersteine für Julius Jesaias und Salomon Neuberg in der Bleibtreustraße
Stolpersteine für Julius Jesaias und Salomon Neuberg in der Bleibtreustraße

Ebenso wie sein Bruder Julius, mit dem zusammen er die letzte Zeit in der Bleibtreustraße in einem „Judenhaus“ wohnen musste, blieb er anscheinend unverheiratet. Am 25.6.1942 wurden Dr. Salomon Neuberg und sein Bruder Julius von Berlin nach Theresienstadt deportiert, wo Salomon drei Monate nach seinem Bruder Julius am 18.3.1943 ermordet wurde.

Johanna Neuberg (1878–1939), die einzige Schwester von Julius und Salomon, war mit dem Pferdehändler Julius Goldschmidt (* 1864) aus Sachsenhagen verheiratet und lebte mit ihm in Hannover. Sie hatten die Kinder Else (* 1898) und Hans (* 1902), die auch nach ihrer Verheiratung mit Ludwig Speier (* 1887 in Heidenbergen) bzw. Helene Wolffs (* 1913 in Aurich) im elterlichen Haus blieben, vermutlich um den Pferdehandel nach dem Tod des Vaters weiterzuführen. 1923 wurde Lore Speier als Tochter von Helene und Ludwig Speier geboren.

Ludwig Speier wurde nach der Pogromnacht 1938 in Buchenwald inhaftiert. Johanna Goldschmidt, deren Mann vermutlich bereits gestorben war, ertrug die immer schärfere Verfolgung und die dauernde Angst vor einer Verhaftung nicht mehr und beging am 26.11.1939 Selbstmord. Die Familien ihrer Kinder wurden im September 1941 mit vielen anderen Juden im „Judenhaus“ Lützowstr. 3 zusammengepfercht und am 15.12.1941 nach Riga deportiert, wo sich die Spuren der jungen Lore Speier, ihrer Mutter Else und ihres Vaters Ludwig verlieren.

Mit demselben Transport wurden auch Hans und Helene Wolffs nach Riga deportiert. Hans Goldschmidt wurde in das „Arbeitserziehungslager“ Salaspils weiterverschleppt und dort im Februar 1942 ermordet, während seine Frau Helene im Oktober 1944 nach Stutthof verbracht und dann auf den „Todesmarsch“ nach Westen geschickt wurde, den sie nicht überlebte. Sie kam am 29.3.1945 in Schlewe (Pommern) um.

[1] Viele der Informationen über die Familie Eisenstein verdanke ich dem Lokalhistoriker Dr. Thomas Bauer aus Bergheim, der mich auch auf die online einsehbaren Briefe und Dokumente von Irma Simon und andere Quellen hinwies.
[2] Walter Fränkel, Brief an Dr. Dittmar vom 3.8.1962. In: Omnibus. Nachrichtenblatt der Vereinigung ehemal. Schüler des König Wilhelm-Gymnasiums in Höxter e.V., Nr. 42-46, Weihnacht 1962, S. 36 ff.