Jüdische Bürger in Höxter

Das Photographische Atelier ›Victoria‹ in der Stummrigestraße 4
Das Photographische Atelier ›Victoria‹ in der Stummrigestraße 4

Die Photographen-Familie Ahron-Israelsohn

Der Name Ahron taucht in Höxter erst 1902 in einem Seitenzweig der hier im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Familie Hochfeld auf. Der aus dieser Familie stammende Samuel Hochfeld (1839–1912) ließ sich mit seiner Frau Jeanette, geb. Weil (1850–1919) Mitte der 1870er Jahre als Uhrmacher in der Marktstaße 13 nieder und eröffnete um 1900 in der Stummrigestraße 4 das „Photographische Atelier ›Victoria‹“.

Meldekarte von Hilde Ahron
Meldekarte von Hilde Ahron

Ihre einzige Tochter Hedwig (* 20. Feb. 1880) heiratete 1902 den aus Wunstorf stammenden Armand Ahron (* 17. Aug. 1873), einen Sohn des Photographen und Malers Eduard Ahron und seiner Frau Rosalie Rosenberg, und ging mit ihm zunächst nach Wilhelmshafen, wo andere Angehörige der Familie Ahron als Photographen lebten. Dort wurde am 13. Dez. 1903 die Tochter Gertrud geboren. 1905 kehrten sie wieder zu Hedwigs Eltern nach Höxter in die Stummrigestraße 4 zurück, um das Photoatelier des inzwischen fast 70-jährigen Samuel Hochfeld zu übernehmen.

In den folgenden Jahren führten sie das Atelier weiter, und Armand Ahron galt in Höxter als „Superphotograph“. Zusätzlich gab es jedoch schon früh Verbindungen nach Hannover, wo Verwandte lebten, und die zweite Tochter Hilde Wilhelmine wurde am 20. Juli 1910 in Hannover-Linden geboren. 1925 meldete Armand Ahron sich mit zweitem Wohnsitz in Hannover an, wo er zumindest für eine Zeit bei seinem Bruder Wilhelm (* 1884) wohnte, der dort als Ingenieur arbeitete, bis er später in die USA emigrierte.

Bei seiner Anmeldung in Hannover und auch später gab Armand Ahron als Beruf Photograph an. Vermutlich war das Einkommen jedoch nicht inreichend, und so gründete er 1927 einen Tabakgroßhandel mit einer Niederlassung in Hannover und war seitdem als Handelsvertreter „auf Reisen“, während das durch ein Tabakgeschäft erweiterte Photoatelier in Höxter wohl vor allem von seiner Frau weitergeführt wurde.

Von Armand Ahron fotografiertes Mädchenpaar
Von Armand Ahron fotografiertes Mädchenpaar

Auch wenn Einzelheiten bisher nicht geklärt sind, scheint Armand Ahron schon bald nach Beginn des Dritten Reiches ein Opfer der rassistischen Verfolgung und Ausgrenzung der Juden geworden sein. Im Juli 1933 wurde er wegen „gewerblicher Hehlerei“ festgenommen, ein Vorwurf, der wahrscheinlich auf dem Hintergrund der sich verschärfenden Verfolgung der Juden zu sehen ist. Er wurde in der Untersuchungshaftanstalt Rennelberg in Braunschweig inhaftiert und erhängte sich dort, offenbar verzweifelt über die Haftbedingungen und ohne Hoffnung auf baldige Entlassungen, am 12. Dez. 1933 in seiner Zelle.

Aus dem Häftlingsbuch des Gefängnisses in Braunschweig
Aus dem Häftlingsbuch des Gefängnisses in Braunschweig
Max Israelsohn
Max Israelsohn

Seine Frau Hedwig war in Höxter geblieben und führte das Fotoatelier auch unter der Nazi-Herrschaft weiter. Die Tochter Gertrud heiratete 1930 den Viehhändler Max Israelsohn (1901–1967) aus einer Vördener Familie, der ebenfalls in das Haus in Höxter einzog. Dort wurde Anfang 1935 die Tochter Suse Anna geboren.

In der Pogromnacht 1938 wurde das Geschäft von den SA-Trupps gestürmt, die dabei das Schaufenster und das Haustürfenster zerschlugen. Max Israelsohn wurde in Vörden verhaftet, wo er sich in der Nacht bei seinen Eltern aufhielt. Mit seinem Bruder Alfred wurde er nach Höxter verbracht und dann bis zum 11. Jan. 1939 in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.

Die Meldekarte der dreijährigen Suse mit dem roten Stempel „J“
Die Meldekarte der dreijährigen Suse mit dem roten Stempel „J“

Das Haus in der Stummrigestraße 4, das seit ihrer Heirat im Besitz von Gertrud Israelsohn war, wurde noch im selben Jahr an die Stadt Höxter verkauft, da es „im Interesse des Verkehrs abgerissen“ werden sollte – ein Verkauf, der sicher auch deshalb betrieben wurde, als Max und Gertrud Israelsohn mit ihrer Tochter Suse durch die Unterstützung der Quäker im Sommer 1939 nach England auswandern konnten. Die Tochter Suse erinnert sich noch plastisch, wie sie sich einmal – vermutlich in der Pogromnacht 1938 – vor den SA- oder SS-Leuten in der Wäschekiste verstecken musste und wie sie bei der Auswanderung auf dem Bahnsteig rennen musste, um ihre Mutter nicht zu verlieren.

Hedwig Ahron geb. Hochfeld um 1930
Hedwig Ahron geb. Hochfeld um 1930

Hedwig Ahron dagegen musste oder wollte in Höxter bleiben. Sie musste das Haus verlassen und zog im Dezember 1939 in das Gebäude der Synagoge an der Nagelschmiedstraße 8, das in der Folgezeit als „Judenhaus“ viele weitere alte Juden aus Höxter aufnehmen musste. Hedwig Ahron wurde bei der zweiten Deportation aus Höxter am 31. März 1942 in das Ghetto in Warschau verschleppt, wo sich ihre Spuren verlieren.

Die Familie Israelsohn in England

Max Israelsohn zog mit seiner Frau Gertrud und der Tochter Suse zunächst nach London, wurde aber nach Kriegsbeginn als „ennemy alien“ im Kitchener Camp (Grafschaft Kent) interniert. Er schloss sich einem Pionier Corps der englischen Armee an, das in der Grafschaft Shropshire ein Waffen- und Panzerdepot errichtete. Auch seine Frau Trude zog mit der Tochter Suse nach Shropshire, wo die Familie wieder zusammenkam.

Max Israelsohn als Pionier im Kitchener Camp
Max Israelsohn als Pionier im Kitchener Camp

Nach dem Krieg arbeitete Max Israelsohn, der seinen Namen 1943 in Henry Mac Son geändert hatte, bis zu seiner frühen Erblindung in einer Möbelfabrik. Er starb 1967, seine Frau Trude 1991 in einem Altenheim. Ihre Tochter Suse Anna besuchte ein College in London und unterrichtete nach ihrem Studienabschluss zunächst in London Englisch und Drama. 1956 lernte sie dort ihren Mann (Jewitt) kennen, sie heirateten, bekamen 1957 die Tochter Debbie und zogen nach Wolverhampton.

Gertrud Israelsohn starb 1991 in ein Pflegeheim. Die Enkelin Debbie übernahm zunächst das Haus in Shropshire, bis sie dann mit ihrem inzwischen geheirateten Mann (Poole) und dem 1989 geborenen Sohn Daniel auf die Insel Skye in Schottland zog, wohin ihnen vier Jahre später auch ihre Mutter Suse Anna folgte. Daniel wurde Lehrer für Religionskunde und Geschichte, und 2013 konnte die Familie gemeinsam seine Hochzeit feiern.

Suse Jewitt mit dem Enkel Daniel Poole, seiner Frau und dem Brautvater (2013)
Suse Jewitt mit dem Enkel Daniel Poole, seiner Frau und dem Brautvater (2013)

Sue Jewitt, die letzte der noch in Höxter geborenen Jüdinnen starb 2021. Aber die grausamen Erfahrungen der Nazi-Diktatur sind in der Familie nicht vergessen; vorherrschend ist jedoch die Hoffnung, wie Debbie Poole dem Autor 2010 schrieb: „Ich bleibe eine unerschütterliche Optimistin, denn ich glaube, die meisten Menschen sind gut und haben aus der Geschichte gelernt; aber ich habe den Eindruck, dass es leider nicht genügend Politiker und politisch Verantwortliche gibt, die diese Lektion ebenfalls gelernt haben. Vielleicht ist es wichtiger, dass wir einfachen Menschen es anders machen, wo wir können – gerade wie du es getan hast.“

Hilde Stamfort, geb. Ahron/Ahrens

Hedwig und Armand Ahrons zweite Tochter Hilde Wilhelmine, geboren am 20. Juli 1910 in Hannover, besuchte die Töchterschule in Höxter und ging 1927 nach Berlin, wo sie bis 1930 in einem Altenheim und einem Waisenhaus eine Ausbildung absolvierte. Zum Abschluss besuchte sie in Frankfurt am Main ein Seminar für Sozialfürsorge und kehrte dann nach Berlin zurück.

Hilde Ahron um 1930 (Familienarchiv Stamfort)
Hilde Ahron um 1930 (Familienarchiv Stamfort)

Im April 1933 floh sie ins Exil nach Frankreich, änderte Ihren Namen zu Hilde Ahrens und arbeitete in den folgenden Jahren als Kindermädchen und Hausangestellte in Paris. Dort heiratete sie 1936 den in Stemmen (Lippe) geborenen Gymnasiallehrer Dr. Otto Stamfort (1901-1981), der als Jude aus dem Schuldienst entlassen und ebenfalls nach Frankreich emigriert war. Dieser hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen ins Corveyer Land, denn Joseph Uhlmann, sein mütterlicher Großvater, stammte aus Ovenhausen, genau dem Haus, das vor einigen Jahren ins Freilichtmuseum Detmold versetzt wurde und dort seit 2007 als Beispiel für die Wohn- und Lebensverhältnisse ländlicher Juden zu besichtigen ist.

Nach Kriegsbeginn wurde Hilde Stamfort im Lager Gurs interniert, floh aber im Herbst 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs, wo sie unter falschem Namen und getrennt von ihrem Ehemann als Hilfskraft in der Landwirtschaft arbeitete. Nach der Besetzung Frankreichs gehörte sie dem kommunistischen Widerstand an.

1946 kehrten sie und ihr Mann nach Deutschland zurück, wo Dr. Stamfort in Ludwigshafen, also in der französischen Besatzungszone, eine Stelle als Studienrat erhalten hatte. In dieser Zeit unterrichtete er den späteren Bundeskanzler Helmut Kohl in Mathematik und Physik, was dieser in seinen Erinnerungen ausführlich beschreibt. Daneben engagierten sich Hilde und Otto Stamfort beim Aufbau der regionalen KPD und ihrer Jugendorganisation FDJ.

Helmut Kohl, Erinnerungen
Helmut Kohl, Erinnerungen

1948 verlegten die Stamforts ihren Wohnsitz nach Weimar, damals Sitz der Landesregierung von Thüringen, wo Dr. Stamfort als ministerialer „Oberreferent“ zum Leiter der Schulaufsicht ernannt worden war. Von hier wurde er 1951 als Hochschullehrer an die Universität Jena berufen. Zeitweise übte er zusätzlich das Amt des Prorektors aus. Hilde Stamfort war in all diesen Jahre nicht berufstätig, aber wie ihr Mann Otto aktives Mitglied der SED. Hilde Stamfort hatte in der DDR den privilegierten Status eines „Kämpfers gegen den Faschismus“. Bei den jährliches „Buchenwaldtreffen“ betätigte sie sich als Dolmetscherin aus dem Französischen.

Prof. Dr. Otto Stamfort, 1959 zum Professor mit Lehrauftrag berufen – ein Titel, der insbesondere sein Engagement für die Verbesserung der Studienbedingungen würdigte, wurde 1976 zum Ehrensenator der Universität Jena ernannt. Er starb am 14. Apr. 1981 in Kyritz. Seine Frau Hilde zog nach seinem Tod zu der Adoptivtochter nach Leipzig, wo sie am 16. Jan. 1993 verstarb.

Hilde Stamfort, wohl in den 1950er Jahren • Prof. Dr. Otto Stamfort (vorn links) als Mitglied des Hohen Senats der Universität Jena im Jahr 1959
Hilde Stamfort, wohl in den 1950er Jahren • Prof. Dr. Otto Stamfort (vorn links) als Mitglied des Hohen Senats der Universität Jena im Jahr 1959

Nach Höxter kehrte Hilde Stamfort in den späteren Jahren anscheinend nie mehr zurück, und auch der Kontakt zu ihrer Schwester Gertrud Israelsohn war anscheinend eher sporadisch. Die Nichte Debbie erinnert sich aber an einen Besuch in England um 1963, als der Onkel Otto ihr zeigte, die Zahl 5 richtig zu schreiben. Zu mindestens einer weiteren Begegnung kam es 1976, als Hilde und Gertrud sich in London trafen, denn Dr. Otto Stamfort gehörte als höherer Funktionär zu denen, die mit der Familie ins westliche Ausland reisen konnten.

Die Geschwister von Armand Ahron

In Kurzform sei hier auch das Schicksal der fünf Geschwister von Armand Ahron berichtet, die alle in Wunstorf geboren wurden. Die beiden Brüder Emil (1881–1918) und der in Norden mit Bertha Altgenug verheiratete Max (1882–1917) fielen im Ersten Weltkrieg. Von den drei Kindern wurde der in die Niederlande und nach Belgien emigrierte Sohn Kurt 1942 zur Ermordung nach Auschwitz deportiert, während der Sohn Josef 1937 nach Palästina emigrierte und dort den Namen Arnon annahm. Seine drei Kinder leben in Israel.

Der Bruder Oskar (* 1877), der wie der Vater und der Bruder Armand Photograph geworden war, floh mit seiner Frau Jeanette Vogelsang (* 1883) und der verheirateten Tochter Margot Pauline nach Amsterdam. Von dort wurde die ganze Familie im Februar 1942 über das Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Ebenso floh auch die Schwester Gertrud (* 1878) mit ihrem Mann Jakob Wolf 1941 nach Amsterdam. Sie wurden am 1.9.1943 über das Lager Westerbork zunächst nach in das KZ Bergen-Belsen deportiert, dann am 25.1.1944 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt und schließlich am 9.10.1944 nach Auschwitz deportiert, wo beide ermordet wurden. Das Ehepaar hatte mindestens ein Kind, das nach Palästina fliehen konnte. Mindestens eine Enkelin lebte heute in Israel.

Armand Ahrons jüngster Bruder Wilhelm (Willi, Willy) (* 1884) wurde Ingenieur und lebte mit seiner Frau Henriette (Henny) und der 1920 geborenen Tochter Ingeborg in Hannover, wo er zeitweise auch seinen Bruder Armand aufnahm. Vermutlich wegen der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse und der Arbeitslosigkeit in Deutschland wanderte die Familie am 16.12.1930 mit dem Zielort Washington D.C. über Bremen in die USA aus.

Ausführlichere Informationen über die Geschwister Ahron siehe: Monika Felsing, Bettys Nachbarn – Betty’s buren: NS-Verfolgte im Exil in Amsterdam. 2023

Fritz Ostkämper, 13.10.2015, aktualisiert 18.04.2024
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de