Jüdische Bürger in Höxter

Die Familie Gudemann in Bosseborn

Abraham Gudemann, „Maire“ der „Commune“ Bosseborn

Schon wegen seiner geringen Einwohnerzahl und seiner Lage auf den Bergen bot sich das kleine Dorf Bosseborn kaum für die Ansiedlung von Juden an. Trotzdem findet man dort rund 100 Jahre lang von 1770 bis etwa 1870 die Angehörigen der jüdischen Familie Gudemann, von denen die Quellen allerdings nach der Jahrhundertmitte nur noch einen einzigen verzeichnen.

Bald nach 1770 zog der vorher in Adorf wohnende Abraham Gudemann (1754 – vor 1816) als ganz junger Mann nach Bosseborn, möglicherweise mit seinen Eltern. Das legt zumindest ein Hinweis von 1828 nahe, sein schon vor 1800 nach Jamaica ausgewanderter Bruder (Johann) Salomon Meyer sei in Bosseborn geboren, der in den Quellen meistens als John Meyer oder Myer(s) erscheint. Als dessen Bruder oder Schwager wird in Berichten aus der damaligen Zeit außerdem noch ein Jacob Gudemann, Wirt in Bremen, genannt, der John Meyer auch mindestens bei einer Fahrt nach Jamaica begleitete. Eher handelt es sich diesem aber wohl um Abraham Gudemanns ältesten Sohn Jacob Abraham (* 1772), Wirt in Bosseborn, der wohl nicht sehr viel jünger war als sein Onkel John Meyer.

Abraham Gudemann heiratete die wohl erst 14-jährige Gelle Jacob (1758–1826) aus Markoldendorf und ging in Bosseborn seinem Gewerbe als Hausierer nach. Er war offensichtlich so erfolgreich, dass er 1800 in einem Attestat der Corveyer Kanzlei als „Staabs Marquetender beym 4ten Chur Hannoverschen Grenadier Battaillon des Herrn Majors von Plato“ erscheint. Er belieferte also die Truppen mit Waren und Nahrungsmitteln. Zudem bescheinigt ihm das Attestat, dass er „daselbst [d.i. in Bosseborn] ein eigenes Wohnhaus besitze, sich mit Handel und Wandel ehrlich ernähree, und überhaupt seine Nahrungsgeschäfte bisher dergestalt befördert habe, daß wider seinen sittlichen Charakter, sein ruhiges Betragen und seine Rechtschaffenheit nichts zu erinnern ist“.

Der heute als Brunnenabdeckung dienende ehemalige Grabstein aud der Familie Gudemann
Der heute als Brunnenabdeckung dienende ehemalige Grabstein aud der Familie Gudemann

So ist es nicht erstaunlich, dass Abraham Gudemann bei der Verwaltungsreform im Königreich Westfalen des Jérôme Bonaparte zum „Maire“ der „Commune Bosseborn“ ernannt wurde, der so auch für alle Zivilstandsangelegenheiten (Heiraten, Geburten, Todesfälle) zuständig war. Bei der Namensannahme der Juden nahm er 1808 den Namen Gudemann an, der ihm schon vorher beigelegt worden war, auch in der Namensform Judemann.

Der geschäftliche Erfolg Abraham Gudemanns lässt sich daran bemessen, dass sein Vermögen bereits 1796/97 mit 500 Tl. angegeben wurde und dass seine Witwe 1816 ein Haus, zwei Gärten und viereinhalb Morgen Land besaß und mit dem Hökerhandel 200 Tlr. Courant erwirtschaftete. Außerdem gab es in Bosseborn sogar einen kleinen jüdischen Friedhof, auf dem die Mitglieder der Familie Gudemann bestattet wurden. Nur ein heute als Brunnenabdeckung dienender Grabstein zeugt noch von diesem Friedhof.

Die Kinder von Abraham Gudemann

Abraham und Gelle Gudemann bekamen mindestens fünf Kinder, die zwischen 1772 und etwa 1885 geboren wurden. Ob auch der später mit Jettchen Spiegel verheiratete Isaak Gudemann ein Sohn Abrahams war, ist nicht gesichert. Über die Tochter Belle (* 1783) ist nichts Weiteres bekannt. Ihre Schwester Vogel/Vina (1788–1848) heiratete 1812 den aus Pattensen stammenden Jacob Philippsohn (1875/77–1847) und lebte mit ihm in Höxter. Beide wurden nach ihrem Tod hier auf dem jüdischen Friedhof begraben. Der Sohn Abraham Mathias (* 1782) wanderte anscheinend wie sein Onkel John Meyer nach Jamaica aus, von wo er 1827 zurückkehrte und seine Nichte Rebecca heiratete (s.u.). Er starb jedoch wohl nach wenigen Wochen.

Jacob Abraham Gudemann (* 1772), der älteste Sohn des „Maire“, heiratete die aus Seesen stammende Helene Ehrenberg (Halle) (1800–1840) und hatte mit ihr sechs Kinder, deren Spuren hier nicht weiter verfolgt werden. Er blieb als Gastwirt in Bosseborn. Dazu war er als Auswanderungsagent tätig und unterstützte seinen Onkel John Salomon Meyer bei der Anwerbung von Auswanderungswilligen nach Jamaica, die zum Teil in seinem Haus die Verträge unterschrieben. Eine Überfahrt begleitete er auch selbst. (Zur Auswanderung nach Jamaica siehe unten.)

Besonders verwickelt ist die Geschichte von Abrahams Gudemanns Tochter Gitel/Gutel (1785–1863). Sie hatte mit dem als Knecht bei dem Ackermann Schapsmeyer dienenden katholischen Heinrich Lessmann aus Hembsen um 1807 die Tochter Rebecca Friederike bekommen. Die beiden wollten auch heiraten und Gitel war nach der notwendigen christlichen Unterweisung in Dalhausen auf den Namen Christine Berhardine getauft worden. Gitels Vater Abraham widersprach jedoch der Eheschließung, und so wurde ihre Tochter Rebecca in Hembsen unehelich geboren. Gitel ging dann mit dem inzwischen getauften Kind nach Sievershausen, zog jedoch später wieder zu ihren Eltern nach Bosseborn, folgte den jüdischen Gesetzen und erzog auch ihre Tochter Rebecca als Jüdin. Sie lebte später (1840) in Höxter, wo sie die Söhne Moritz und Julius ihres Bruders Jacob versorgte, deren Mutter Helene 1840 gestorben war.

Ihre inzwischen etwa 20-jährige Tochter Rebecca wurde zunächst 1827 mit ihrem Onkel Abraham Mathias (* 1782) verheiratet, einem Bruder ihrer Mutter, der aus Jamaica nach Bosseborn zurückgekehrt war, aber wohl bald starb und über den nichts Weiteres bekannt ist. So kam es im folgenden Jahr zu einem sehr eigenwilligen Konstrukt, bei dem es wohl um die finanzielle Absicherung Rebeccas und vielleicht auch die Sicherung des Vermögens der nach Jamaica ausgewanderten Familienmitglieder ging.

Denn wenige Monate nach der ersten Heirat heiratete Rebecca im März 1828 ihren Großonkel John Meyer Gudemann, der aus Jamaica zum Besuch in Bosseborn weilte. Gegen diese Heirat erhob jedoch der Landrat Widerspruch, nicht etwa wegen des Altersabstands, sondern weil Rebecca durch ihre Taufe Christin sei und deshalb keinen Juden heiraten dürfe. Zudem sei John Meyer wegen seiner mehr als 30-jährigen Abwesenheit als nicht sesshafter Jude anzusehen und müsse des Landes verwiesen werden.

Ein Beamter der Mindener Regierung verwies dagegen darauf, dass Rebecca „niemals den mindesten Unterricht in der christlichen Religion genoßen […] und noch weniger ein Bekenntniß des christlichen Glaubens abgelegt“ habe. Überdies gehöre „die Art & Weise, Gott zu verehren […] zu den Freiheitsrechten des Menschen.“ Dieser Argumentation folgte auch das Ministerium in Berlin, und so wurde die Ehe schließlich als gültig anerkannt, wobei es keine Rolle spielte, dass John Meyer bereits etwa einen Monat nach der Heirat nach Jamaica zurückgekehrt war.

Spätere Nachkommen der Familie Gudemann in Bosseborn

Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tritt der Name Gudemann noch verschiedentlich in Bosseborn auf, ohne dass jedoch die verwandtschaftlichen Beziehungen bisher geklärt sind. So wird 1869 der 79-jährige jüdische Rentner Gudemann genannt, „ein Mann der notorisch durch Lebenserfahrung, Kenntnis der Bosseborner Verhältnisse und Redlichkeit sich ausgezeichnet hat“, sicher identisch mit dem 70-jähren Jacob Gudemann, der wenige Jahre zuvor den Landrat um Entlassung aus der Synagogengemeinde und Befreiung von der Kultus-Steuer gebeten hatte, denn Ovenhausen liege eine Stunde Fußweg von Bosseborn, und außerdem sei die Synagoge dort in schlechtem Zustand.

The Australasian, 18.12.1897
The Australasian, 18.12.1897

Bei zwei weiteren Namensträgern könnte es sich um Geschwister dieses Jacob handeln. So wanderte ein Julius Gudemann aus Bosseborn 1850 als „businessman“ über Hamburg in die USA aus. Mehr bekannt ist über Robert Gudemann (1825–1897) – wohl ein weiterer Bruder –, der 1851 nach Australien emigrierte, wo er später sein Haus in St. Kilda nach seinem Geburtsort Bosseborn nannte. Er arbeitete zunächst als Rechnungsprüfer bei einer Versicherung und später bei der Regierung von Victoria. Dort stieg er schließlich zum Unterschatzmeister auf. Ob aus seiner 1874 geschlossenen Ehe mit der verwitweten Mary Elizabeth Pigott Nachkommen hervorgingen, ist nicht bekannt.

Abraham Gudemanns Bruder Salomon Meyer, „Kaffee-Baron“ auf Jamaica und Anwerber deutscher Auswanderer

Leben und Schicksal von Abrahams Gudemanns beiden Söhnen Jacob Abraham (* 1772) und Abraham Mathias (* 1782) verbinden sich mit dem ihres wahrscheinlich in den 1790er Jahren in die USA und dann nach Jamaica ausgewanderten Onkels Salomon Meyer, dem wohl nur in Deutschland der Familienname Gudemann beigelegt wurde, während er sonst als Johann/John/Solomon M(e)yer(s) erscheint. Seine Lebensdaten sind nicht bekannt, und von seinem Neffen Abraham Mathias ist nur belegt, dass er nach Jamaica auswanderte und bei seiner Rückkehr nach Bosseborn 1827 seine Nichte Rebecca heiratete. Er starb offenbar kurz danach, worauf Rebecca 1828 mit ihrem Großonkel Salomon Meyer verheiratet wurde (siehe oben).

John Meyer besaß etwa ab Mitte der 1810er Jahre in dem damals unter britischer Krone stehenden Jamaica eine Kaffeeplantage („Pleasant Mount“) von etwa 500 acres (200 Hektar), die er zunächst mit wenigen und ab 1823 mit rund 45 schwarzen Sklaven betrieb. 1833/34 wurde die Sklaverei jedoch auch in den englischen Kolonien abgeschafft, die ehemaligen Sklaven verließen in großer Zahl die Plantagen und nahmen das unbesiedelte Innere der Insel in Besitz. Um den Arbeitskräftemangel auf den Plantagen zu beheben, entwickelte die Plantagenbesitzer mit der Regierung den Plan, europäische Siedler für die Arbeit anzuwerben, von denen man sich auch eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Methoden und die Einführung neuer Kulturen wie etwa des Weinanbaus erhoffte.

Die erste Anwerbung von Siedlern wurde 1834 von John Meyer für eine Prämie von £15 je Person zuzügl. Nebenkosten (insg. £7.590) übernommen. Es gab jedoch so viele Beschwerden, dass der Anwerbung danach dem ebenfalls aus Deutschland stammenden Juden Wilhelm Lemonius übertragen wurde, der seitdem mit John Myers zusammenarbeitete. Lemonius hatte sich nach Jahren als preußíscher und englischer Offizier als Pflanzer und Arzt in Jamaica niedergelassen und dort 1831/32 die Miliz bei der Niederschlagung eines Sklavenaufstands kommandiert. Beauftragt waren die Werber von einer aus Großgrundbesitzern bestehenden Privatgesellschaft, gaben aber vor, von der jamaikanischen Regierung lizensiert zu sein. Versprochen wurde den Neuansiedlern ein tropisches Paradies und Freiland für alle. Von Gelbfieber, Dysenterie, Malaria, Mücken und Hakenwurm war nicht die Rede.

Karikatur auf der Ausbeutung der Neuansiedler
Karikatur auf der Ausbeutung der Neuansiedler

Im Mai 1834 brachte John Meyer die ersten 13 Familien mit 63 Personen aus Bremen nach Jamaica zurück, die er bei seiner eigenen Plantage „Mount Pleasant“ auf einer Fläche von 300 Hektar ansiedelte. Der erst neu zu errichtende Ort erhielt nach der Herkunft der meisten jetzt als apprentice bezeichneten Siedler den Namen „New Brunswick“. John Meyer hatte die Reisekosten übernommen, wofür die Neuankömmlinge drei Jahre ohne Bezahlung bei ihm zu arbeiten hatten. „New Brunswick“ war jedoch ein Fehlschlag, und die meisten Siedler entflohen dem Dschungel in die Hauptstadt Kingston oder ließen sich von der Polizei anwerben.

Ebenso schlimm oder noch schlimmer erging es im Dezember 1834 der zweiten, 506 Menschen großen Gruppe von Einwanderern aus dem hiesigen Raum, die zumeist wie vorher die Sklaven in kleinen Gruppen auf verschiedene Großgrundbesitzer verteilt wurden. Begleitet wurden diese Siedler auf der Überfahrt von dem Bosseborner Wirt Jacob Gudemann, der aber bald nach der Ankunft in Jamaica wieder nach Deutschland zurückkehrte, um die nächsten Auswanderungswilligen anzuwerben.

Die nach heimischem Vorbild gebaute Kirche in Seaford Town
Die nach heimischem Vorbild gebaute Kirche in Seaford Town

Nicht anders erging es auch der dritten Gruppe von 532 Menschen vor allem aus Lippe und dem hannöverschen Gebiet auf der anderen Seite der Weser, die im Dezember 1835 in Jamaica ankamen. 251 von ihnen mussten sich in der noch nicht existierenden Siedlung „Seaford Town” ihre Hütten und Häuser bauen, wo mindestens 34 schon in den ersten zwei Jahren starben. Die meisten anderen verließen die Siedlung, nachdem sie sich freigekauft hatten, und nach fünf Jahren verblieben 1840 nur noch 67 der Ankömmlinge in Seaford Town.

Ein auch von anderen unterzeichneter Brief der aus Bosseborn stammenden und mit der zweiten Gruppe nach Jamaica gelangten Karoline Wulf an ihre Mutter legt beredt Zeugnis ab von den Leiden der deutschen Auswanderer in Jamaica, und nur zu gut versteht man, dass sie John Meyer, Jacob Gudemann und den Kapitän Sager verfluchten, deren Werbung sie in dieses Elend gebracht hatte.

Der am 15. Mai 1835 in einer Zeitung abgedruckte Brief der Karoline Wulf aus Bosseborn (S. 1)
Der am 15. Mai 1835 in einer Zeitung abgedruckte Brief der Karoline Wulf aus Bosseborn (S. 1)
„Unser bester Landsmann und Freund Meyer’s ließ uns darauf nach seiner Plantage führen, die wohl 8 Stunden entfernt ist, und wies uns in ein Gebirge Stellen an, wo wir uns Häuser bauen und ansiedeln sollten; in einem Gebirge, wo ganz schlechtes Holz ist, wo kein Wasser, keine Nahrungsmittel wachsen, sollten wir in dem größten Jammer und elend Hütten bauen. Selten erhielten wir zu essen, und so schlecht, wie man es dort Tieren nicht gibt. Bei dieser Behandlung war ich in 10 Tagen so abgemagert, daß ich kaum gehen konnte. Meine Beschwerden, Mühseligkeiten, Trauer und Heimwehe im Anfange kann ich nicht beschreiben, besonders wenn ich beachte, daß mich mein erster Nachbar in ein solches Unglück gestürzt hatte; … Wäre nicht der Jude Meyers sammt seinem Bruder Gudeman, der seit dem 15. Febr. von hier wieder abgereist ist, und im Begriff mit dem Kapitän Sager steht wider 5 oder 600 Menschen in’s Elend zu bringen, werth, daß sie gegeißelt würden? … Und entdlich muss muß ich allen meinen lieben Landsleuten zurufen: Laßt euch weder von Gudemann, noch von Kapitän Sager bereden, in dieses Land zu kommen, wenn ihr euch nicht in’s Elend stürzen und hunger sterben wollt.“
Augsburger Postzeitung, 14.12.1834
Augsburger Postzeitung, 14.12.1834

Schon Ende 1834 war offenbar eine gerichtliche Untersuchung gegen Jacob Gudemann und/oder John Meyer eingeleitet worden wegen der Bildung eines „förmliche[n] Werbungskomtoir[s] zur Beförderung von Auswanderung nach Jamaika“. Zeitungen hatten berichtet, die Behörden hatten gewarnt, „daß die Auswanderer unter jenem, der drückenden Sonnengluth ausgesetzten, Himmelstriche sich nur zu bald dem Tode preis geben würden”, und hatten Jacob Gudemann in Preußen, wozu auch Bosseborn gehörte, die Anwerbung untersagt.

Der Abdruck des Briefes der Karoline Wulf in der Zeitung Der Sprecher oder Rheinisch-Westphälischer Anzeiger im Mai 1835 rief nun ein noch breiteres Echo hervor. Nicht nur das Lippische Magazin druckte in zwei Folgen einen ausführlichen Artikel, sondern die Warnung erreichte auch Bayern und wurde sogar auf den Bermudas wahrgenommen.

Meldungen in der <i>Bayerischen Landbötin</i> 1835, 1, S. 559 und in <i>The Royal Gazette,</i> 11.8.1835
Meldungen in der Bayerischen Landbötin 1835, 1, S. 559 und in The Royal Gazette, 11.8.1835

Diese Warnungen und Maßnahmen sind sicher ein wesentlicher Grund, weshalb die Auswanderung stockte, so dass sich erst drei Jahre nach der dritten Gruppe eine vierte Gruppe mit 109 Personen zumeist aus Niederdeutschland, Franken und der Rhön im Dezember 1838 auf dem Weg nach Jamaica machte. Einzelheiten darüber sind nicht bekannt.

Inzwischen liegen diese Ereignisse in ferner Vergangenheit, aber noch heute findet man auf Jamaica die Spuren der deutschen Einwanderer, über deren schlimmes Los etwa die Frankfurter Neue Presse mit Blick auf Seaford Town am 5.9.2015 zusammenfassend berichtete:

Seaford Town. The German Township
Seaford Town. The German Township
250 Deutsche aus dem Weserbergland sollten 1835 auf dem Grundbesitz von Lord Seaford, rund 30 Kilometer von dem heutigen Touristenzentrum Montego Bay entfernt, Hütten und Land erhalten. Das hatte der ebenfalls deutsche Agent Wilhelm Lemonius zugesagt. Doch es waren leere Versprechungen, und die Handwerker, die ihre Heimat für immer verlassen und mit ihren Familien hoffnungsvoll in Bremen das Schiff betreten hatten, kamen nicht nur in ein unwegsames fremdes Land, sie kannten sich vor allem auch mit dem Anbau tropischer Früchte nicht aus. Ihre Häuser mussten sie selber bauen, Nahrung erhielten sie kaum, oftmals arbeiteten sie über 70 Stunden pro Woche. Ironie des Schicksals: Halb verhungert mussten sie schließlich bei den Schwarzen betteln gehen oder nachts auf deren Feldern stehlen. Zu der harten, ungewohnten Arbeit in dem mörderischen Klima kamen Tropenkrankheiten wie Gelbfieber, Malaria oder Typhus hinzu: Schon nach zwei Wochen starben viele der Einwanderer, und nach zwei Jahren betrug die Einwohnerzahl in der allmählich neu entstehenden deutschen Siedlung Seaford Town nur noch 100.
Voller Hoffnung waren die Emigranten in Deutschland aufgebrochen, doch schnell mussten sie feststellen, dass sie die neuen Sklaven geworden waren. Viele resignierten. Sie schufteten auf den Zuckerrohrfeldern, und nicht selten wurde der Rum ihr Schicksal.

• Peter Schiller: Abraham Gudemann: „Maire der Commune Bosseborn“. In: Höxter-Corvey, 1980, H. 3, S. 5–14
• Peter Schiller: Ins ferne Ausland gelockt und total ausgebeutet. Was viele Westfalen und andere Deutsche vor 150 Jahren in Jamaika erleben mussten. Siegener Zeitung, 5.10.1985 [?]
• Hans Liedtke: Jüdische Familien in Ovenhausen. In: Baumeier/Stiewe (Hgg.): Die vergesseen Nachbarn. Bielefeld 2006, S. 19–38
Donate Strathmann: Ein „ungeheuerlicher und anstößiger Vorfall“: Konversionen zum Judentum und jüdisch-christliche Eheschließungen in Westfalen (1816–1846). In: Westfälscihe Zeitschrift 149, 1999, S. 309–342
Stefan Wiesekopsieker: Auswanderung aus Lippe – alte und neue Fragen der Forschung. In: Joergens/Reinicke (Hgg.): Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Düsseldorf 2006, S. 186–211
Ueber die in einem Theile unseres Landes beginnenden Auswanderungen nach Jamaika. Teil 1 ; Teil 2
Die Geschichte der Jamaika-Deutschen (mit Unterseiten)
Douglas Hall: Bounted European Immigration into Jamaica – with special reference to the German Settlement Seaford Town up to 1850. In: Jamaica Journal, Vol 8, No. 4, S. 50–56

Fritz Ostkämper, 25.9.2017
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de