Jüdische Bürger in Höxter

Die Hochzeit von Dr. Richard Frankenberg mit seiner Frau Änne, geb. Wichelhausen, im Juli 1914.
Die Hochzeit von Dr. Richard Frankenberg mit seiner Frau Änne, geb. Wichelhausen, im Juli 1914.

Dr. Richard Frankenberg – ein jüdischer Bürger Höxters

Elternhaus – Kindheit – Schule (1883–1904)

Richard Frankenberg wurde am 8.10.1883 in Höxter, Stummrigestr. 16, geboren. Sein Vater Gustav Frankenberg war um 1870, wohl nach seiner Heirat mit Jenni Jacobs, verw. Rosenberg, von Löwendorf nach Höxter gezogen und hatte dort ein Manufakturwarengeschäft (Stoffe, Herrenbekleidung, Hüte) eröffnet, das er bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1906 führte.

1901 in Obersekunda
1901 in Obersekunda

Richard wuchs mit acht Geschwistern auf, fünf Schwestern und drei Brüdern, darunter zwei Geschwistern aus der ersten Ehe seiner Mutter. Er besuchte zunächst, von 1889 bis 1893, die jüdische Schule – damals gleichberechtigt mit der evangelischen und der katholischen Volksschule – an der Synagoge in der Faulebachstraße (heute: Nagelschmiedstraße).
Als jüngstes der Kinder sollte Richard eine akademische Bildung erhalten, und er wechselte zu Ostern 1893 auf das König=Wilhelms Gymnasium. Die gymnasiale Ausbildung, damals nur wenigen vorbehalten, durchlief er in elf Jahren, was verständlich wird, wenn man weiß, dass damals nicht selten die Hälfte der Schüler einer Jahrgangsstufe die Klasse wiederholen musste.
Am Ende der Untersekunda erhielt er zu Ostern 1901 die Mittlere Reife und damit sein ›Zeugnis über die wissenschaftliche Befähigung zum einjährig-freiwilligen Dienst‹. Als Richard zu Ostern 1904 sein Abitur ablegte, war bereits klar, dass er anschließend ein Studium aufnehmen würde. Und er verließ das Gymnasium mit dem Ziel, Medizin zu studieren.

Studium – Militärdienst – Promotion (1904–1910)

Richard Frankenberg Beim Abitur
1904 beim Abitur

Im Sommersemester 1904 nahm Richard Frankenberg sein Medizinstudium an der Universität Göttingen auf. Während des Grundstudiums wechselte er zwischendurch für ein Semester an die Universität Freiburg, kehrte aber anschließend nach Göttingen zurück und legte dort, kurz nach dem Tod seines Vaters am 9.6.1906, seine ärztliche Vorprüfung, sein Physikum, ab.
Danach setzte er für zwei Semester sein Studium in München fort und absolvierte dort gleichzeitig seinen halbjährigen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger – ein Privileg, das ihm als Abiturienten und Studenten zustand – beim 1. Königlichen Infanterie-Regiment »König«.
Im Sommer 1909, wieder zurück in Göttingen, schloss er sein Studium mit der ärztlichen Staatsprüfung und der mündlichen Doktorprüfung ab. Am 19.7.1910 wurde er nach Veröffentlichung der Doktorarbeit »Über hereditären Nystagmus« (= Über erbliches Augenzittern) zum Dr. med. promoviert und erhielt gleichzeitig sein Approbation als Arzt, mit der er in seine Heimatstadt Höxter zurückkehrte.

Praxiseröffung – Familiengründung – 1. Weltkrieg (1910–1918)

Bald nach seiner Rückkehr nach Höxter ließ sich der frischgebackene Dr. med. Richard Frankenberg hier als praktischer Arzt nieder und eröffnete im April 1911 seine erste Praxis in der Marktstr. 24 (heute: Sport Klingemann). Er wohnte bereits jetzt im später erworbenen Haus in der Corveyer Allee 5.
Richard Frankenberg fand schnell seinen Platz im Leben der Stadt Höxter und blieb auch seiner alten ›Penne‹ verbunden. So nahm er im September 1912 an der Feier und an dem offiziellen Essen zur Einweihung des neuen Schulgebäudes des KWG an der Bismarckstraße teil und unterstützte die Schule auch mit einer Spende.
Er verkehrte in diesen Jahren häufig im Haus und Geschäft Lipper am Marktplatz, wo er »der schönen stillen Laura« Sander, der Cousine von Ida Lipper, »seine Verehrung« erwies, »um dann die viel reichere Aenne aus Herstelle zu heiraten«, wie ein ehemaliger jüdischer Mitschüler berichtet. Im Februar 1914 verlobte er sich mit dieser Änne Wichelhausen aus Herstelle, einer jungen Frau aus vermögender Familie, und am 2.7.1914 heirateten die beiden. Die Ehe blieb kinderlos, da Änne Frankenberg wegen einer Nierenerkrankung keine Kinder austragen konnte. Das erklärt wohl auch mit, weshalb Dr. Frankenberg geradezu »jeck auf Kinder« war, wie berichtet wird, und weshalb er immer wieder als Kinderarzt bezeichnet wird, obwohl er in Wirklichkeit als ›normaler‹ Hausarzt praktizierte.

Richard Frankenberg Das glückliche Paar
Das glückliche Paar 1914

Dr. Frankenbergs Lebenslauf ist in diesen Jahren und auch im weiteren der eines typischen Deutschen aus dem gehobenen Bürgertum. Er tut nach Beginn des 1. Weltkrieges seine ›Pflicht für Kaiser und Reich‹: Er wird Mitglied des Roten Kreuzes, als der Bürgermeister dazu aufruft, lässt sich dort als stellvertretender leitender Arzt in den Kolonnenvorstand wählen und dient von etwa Ende 1914 bis Anfang 1917, vermutlich als Sanitätsarzt, »im Felde«. In dieser Zeit, am 29.8.1915, stirbt seine Mutter. Wieder zurück in Höxter, nimmt Dr. Frankenberg ab Juli 1917 seine Praxis wieder auf und leitet erneut die Ausbildung von Sanitätern, die vor allem an der Front gebraucht werden. Wohl deshalb hat er zunächst auch nur sehr kurze Sprechzeiten.
Vermutlich haben aber die Erfahrungen des Krieges und das erlebte Leid der einfachen Soldaten bei Dr. Frankenberg den Blick dafür geschärft, dass auch in Friedenszeiten das einfache Volk, die Mehrheit der Bevölkerung, immer und überall zu kurz kommt. Denn was das Wirken Dr. Frankenbergs in den folgenden 14 Jahren der Weimarer Republik bestimmt, das ist sein Engagement für die Armen, die Kinder, die Kranken, kurz: die Unterprivilegierten der Gesellschaft.

Ein angesehener Bürger Höxters (1919–1933)

Das Ende des Krieges und die Weimarer Republik sehen Dr. Frankenberg als Arzt und angesehenen Bürger der Stadt Höxter. Bereits gegen Kriegsende hat er seine Praxis in das wohl in dieser Zeit oder vorher erworbene und für seine Zwecke umgebaute Haus Corveyer Allee 5 verlegt (heute, kaum noch wiederzuerkennen: Kreisbildstelle).

Im Elternhaus von Frau Änne in Herstelle
Im Elternhaus von Frau Änne in Herstelle

Dr. Frankenberg und seine Frau pflegen den Verkehr mit den Nachbarn, wie Fotos und Aussagen von Zeitzeugen belegen. Zu ›Herrenabenden‹ kommen andere angesehene Höxteraner Bürger ins Haus. Ja, sogar Hans Schmidt, während des Zweiten Weltkrieges KZ-Schinder in Buchenwald und dafür nach dem Krieg hingerichtet, verkehrt zeitweise bei den Frankenbergs, bis es Ende der 20er Jahre zu politischen Auseinandersetzungen zwischen Schmidt und anderen Gästen kommt und Hans Schmidt wegbleibt.
Die gesellschaftliche Anerkennung Dr. Frankenbergs in Höxter wird wohl am deutlichsten durch die vielen Aufgaben unterstrichen, die er während der Weimarer Republik übernimmt. So lässt er sich im März 1919 für eine Wahlperiode als Vertreter der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei zum Mitglied der Stadtverordnetenversammlung wählen. Seine politische Arbeit ist, wie die Sitzungsprotokolle ausweisen, geprägt vom Engagement für die Armen und Unterprivilegierte, für diejenigen, die am meisten unter Inflation und Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend leiden.
Das ist sicher auch der Grund, weshalb Dr. Frankenberg von 1919 an sowohl in die Gesundheitskommission als auch in die später mit der Wohlfahrtskommission zusammengefasste Armenkommission gewählt wird. Auch nach 1924, nach seinem Ausscheiden als Stadtverordneter, bleibt er, regelmäßig wiedergewählt (zuletzt im Januar 1933), nun als ›sachkundiger Bürger‹, Mitglied beider Kommissionen, bis »man« ihn im Frühjahr 1933 all seiner Funktionen enthebt.
In all diesen Jahren, von Herbst 1919 bis Frühjahr 1933, nimmt Dr. Frankenberg auch die Aufgabe des von der Stadt eingesetzten »Armenarztes« wahr; denn zu jener Zeit durften die Stadtarmen (heute würde man sagen: Fürsorgeberechtigten) nur zu dem offiziell eingesetzten Armenarzt gehen, der dafür von der Stadt ein vergleichsweise geringes pauschales Honorar erhielt. Als Stadtverordneter plädierte Dr. Frankenberg jedoch – vergeblich – für die freie Arztwahl auch für Arme; und immerhin durfte er dann die Kranken, wenn nötig, zu einem „Spezialarzt“ überweisen.

Besuch des Neffen Hans Lion aus Holland 1924
Besuch des Neffen Hans Lion aus Holland 1924

Zeitzeugen überliefern im übrigen, dass er bei bedürftigen Kranken auch mal auf das Honorar verzichtete oder ihnen sagte, sie könnten später zahlen. Dass er mehr tat als seine ärztliche Pflicht, zeigt auch der Bericht, dass er bei seinen wöchentlichen Visiten im Marienstift, für das er auch zuständig war, oft erst einmal ein Bier für die alten Männer spendierte, das diese sich nicht ohne weiteres leisten konnte.
Auch in anderer Hinsicht überschreitet das Engagement Dr. Frankenbergs seine medizinischen Pflichten im engeren Sinn. Wissend, dass viele der damals häufigen Krankheiten ihre Ursache in den unzureichenden hygienischen Verhältnissen und damit letztlich in Hunger, Armut und der damit einhergehenden Verwahrlosung haben, begnügt er sich nicht mit verbalen Auftritten gegen Volksseuchen, wie z.B. Geschlechtskrankheiten, sondern er erreicht die Einsetzung eines Schularztes; er fordert immer wieder die Umwandlung der Wasch- und Badeanlagen in der Kaserne in ein öffentliches Brausebad; er ist Mitglied der Notgeldkommission, der Kommission für Jugendfürsorge, der Kommission für Kleinrentner; er ruft auf zur Bildung einer Notgemeinschaft, um das herrschende Elend zu lindern; es gelingt ihm, den ehemaligen Höxteraner Juden Alex Bernstein, auch ein Schüler des KWG, der inzwischen in den USA lebt, zu Spenden zu veranlassen, mal 1.500 Mark, mal 10 Dollar – damals große Summen – und schließlich zu einer regelmäßigen monatlichen Spende von 25 Dollar.
Übrigens ist Dr. Frankenberg nur einer der Juden, die in vergleichbarer Weise ihre Mitbürger unterstützen. Beim Kaufmann Löwenstein zum Beispiel wurden jahrelang bis zu vier Kinder aus armen Höxteraner Familien mittags verpflegt und bekamen anschließend oft noch Geld, um in der Bäckerei etwas für die Familie einzukaufen.
Dr. Frankenbergs Einsatz für diejenigen, die unter den herrschenden Verhältnissen zu kurz kommen, wird besonders augenfällig, wenn es um die Kinder geht. Er kümmert sich nicht nur um die Aufnahme armer österreichischer Kinder in Höxteraner Familien, sondern vor allem baut er zusammen mit seinem In Alkmaar lebenden Bruder Louis eine regelmäßige Verschickung hungernder Höxteraner Kinder nach Holland auf. Verschiedene ältere Höxteraner werden sich noch erinnern, dass sie in einer Zeit, als in Höxter oft kaum das Nötigste da war, nach Holland fahren konnten, wo es vor allem erst einmal genug zu essen gab.
Der Name Dr. Frankenberg wird jedoch auch durch persönliche Erinnerungen vieler älterer Höxteraner wachgehalten: dass er z.B., tägliche Besuche nicht scheuend, alles tat, um kleine Kinder am Leben zu erhalten; dass er häufig von Visiten mit einem Wagen voller Kinder zurückkam, die in der Frankenbergschen Villa erst einmal mit Plätzchen versorgt wurden; dass er, zu Geburten oder kleinen Kindern gerufen, oft sagte, er möchte das Kleine am liebsten mitnehmen; dass er gar auf Kinderwunsch hin einmal sogar eine Ziege in seiner Praxis (tier-)ärztlich versorgte.
Für sein vielfältiges Engagement bringen ihm auch die Ärzte ihr Vertrauen entgegen. Sie wählen ihn als Kassierer in den Vorstand ihrer Kreisvereinigung und entsenden ihn als ihren Vertreter in den Vertrags- und Zulassungsausschuss des Versicherungsamtes des Kreises Höxter. Nebenbei sei auch erwähnt, dass er in diesen Jahren auch zu den Mit-Initiatoren des ADAC in Höxter zählt.

Dr. Frankenberg (sitzend, 3. v. l.) als Kolonnenarzt des Roten Kreuzes
Dr. Frankenberg (sitzend, 3. v. l.) als Kolonnenarzt des Roten Kreuzes

Selbstverständlich setzt Dr. Frankenberg auch seine 1914 begonnene Arbeit im Roten Kreuz fort. Er ist Kolonnenarzt, Zugführer; aber er fordert eine Umorientierung von den »Pflichten des Krieges« auf die »praktische[] Friedensarbeit«. Angesichts des Elends in Deutschland – Brennstoffmangel, Wohnungsnot, Hunger, Volksseuchen – ist die Besinnung auf den »Nutzen der Allgemeinheit« notwendig: »Unser Beruf als Sanitätsmann ist ja ein idealer. Wir wollen unsern Mitbürgern helfen, nicht um Geld zu verdienen, sondern allein wegen der Nächstenliebe.« Natürlich ist es dabei für den ›Juden‹ Frankenberg selbstverständlich, dass er als Deutscher seinen Beitrag leistet zum »Wiederaufbau unseres geliebten Vaterlandes«, »ohne Unterschied des Standes, der Confession und der Partei«.
Und natürlich spielt es auch für die meisten Höxteraner keine Rolle, dass Dr. Frankenberg, wenn die Obrigkeit es denn wollte, ankreuzte, er sei mosaischer und nicht evangelischer oder katholischer Konfession. Normal war es auch für (fast) alle, dass die Repräsentanten der jüdischen Gemeinde, zu denen ab 1920 auch Dr. Frankenberg zählte, dem Bürgermeister angezeigt wurden und dass die Zeitungen im redaktionellen Teil und in den Anzeigen auf jüdische Festtage und entsprechende Geschäftsschließungen der deutschen Bürger mosaischen Glaubens hinwiesen. Und wenn Dr. Frankenberg in Urlaub fuhr, so wies er seine Klienten per Zeitungsanzeige darauf hin. Als Urlaubsvertretung gewann er andere Ärzte, so etwa 1923 den ehemaligen jüdischen Schüler Dr. Walther Fränkel, der inzwischen in Berlin lebte.
Allerdings, und schon im Jahre 1920, taucht auch in Höxter das Hakenkreuz auf und erscheint ein Leserbrief, der in vorweggenommener Stürmer-Manier die Juden als »Vampyre« beschimpft, ihnen »wucherischen Handel und schmutziges Schiebertum« unterstellt, von den »Intrigen des jüdischen Volkes in seiner Gier nach der Weltbeherrschung« faselt und behauptet, »daß in Rußland, in Österreich und auch bei uns die Regierung ganz verjudet ist«. Daraufhin sehen sich die Höxteraner Juden veranlasst, im Juli 1920 eine öffentliche Versammlung gegen den Antisemitismus auf den Weserwiesen einzuberufen, an der auch andere Bürger der Stadt teilnehmen. In den weiteren Jahren – ab 1929 ist die NSDAP auch in der Höxteraner Stadtverordnetenversammlung vertreten – tauchen immer wieder Angriffe auf die Juden auf. Insgesamt kann aber wohl sagen, dass die Höxteraner Bürger mosaischen Bekenntnisses in all diesen Jahren als gleichberechtigte und geachtete Mitbürger in der Stadt leben konnten.

Jahre der Verfolgung in Höxter (1933–1941)

Ab 1933 änderte sich auch in Höxter die Situation der deutschen Bürger mosaischen Glaubens grundlegend; denn jetzt wurde der Rassegedanke in die politische Praxis umgesetzt. Leider sind in Höxter bisher nur wenige Akten bekannt geworden, die im einzelnen über das Schicksal Dr. Frankenbergs in diesen Jahren Auskunft geben. Jedoch sprechen die Zeugenaussagen eine deutliche Sprache.
Natürlich wurde Dr. Frankenberg im Frühjahr 1933 all seiner Funktionen enthoben. Er musste nach 14jähriger Tätigkeit aus der Gesundheits- und der Armenkommission ausscheiden und wurde als Armenarzt ersetzt durch einen Arzt, der als Nazi »immer in seiner gelben Uniform herumlief«, wie Zeugen berichten. Zwar scheinen die ersten Boykotte im Mai 1933 in Höxter noch wenig Wirkung gehabt zu haben, und auch nach den Nürnberger Gesetzen durfte Dr. Frankenberg als Frontkämpfer des 1. Weltkrieges noch weiter praktizieren, aber die Lage verschärfte sich zusehends.
Überliefert ist ein Vorfall, als Dr. Frankenberg, zu einer Kranken gerufen, sich erst mit körperlicher Kraft gegen einen ›arischen‹ Hausbesitzer durchsetzen musste, um in das Haus zu gelangen. Für die Gesamtsituation kennzeichnend ist ein anderer Vorfall von Anfang September 1938. Ein Höxteraner Kaufmann, zu dessen Frau Dr. Frankenberg als Hausarzt kam, musste deshalb für mehrere Wochen boykottiert werden, bis er nach einem entschuldigenden Brief und einer Spende an das Winterhilfswerk wieder in die ›Volksgemeinschaft‹ aufgenommen wurde.
Dr. Frankenbergs Hoffnung, der »Spuk« würde vorübergehen und bis dahin würde ihn sein Ansehen in der Bevölkerung schützen, scheint sich in diesen Jahren noch gehalten zu haben; denn er antwortete auf den wiederholten Vorschlag seiner Frau auszuwandern nur: »Ach, in meiner Heimat tut mir doch keiner was.« Als ihm jedoch wie allen jüdischen Ärzten zum 30.9.1938 die Approbation entzogen wurde und er sich als »Krankenbehandler« nur noch um seine jüdischen Mitbürger kümmern durfte, spätestens aber nach der Reichspogromnacht war auch für ihn offensichtlich, dass es keinen Schutz mehr gab.
Auch bei Dr. Frankenberg drang die SA in dieser Nacht ein, verwüstete seine Praxis, drohte ihn die Treppe hinunterzustürzen und jagte ihn auf die Straße. Seine Frau begleitete ihn auf eigenen Wunsch zum Rathaus, und dort wurde er anschließend mit den anderen männlichen Juden im Keller des Rathauses eingesperrt. Vergeblich versuchte er dort, dem während der Aktionen tödlich verletzten Jakob Schlesinger aus Albaxen zu helfen, und wurde schließlich mit den anderen in das KZ Buchenwald verschleppt, bis er (vermutlich nach einigen Wochen) wieder entlassen wurde.

Dr. Richard Frankenberg mit Frau Änne und das Ehepaar Dr. Leo und Ida Pins
Dr. Richard Frankenberg mit Frau Änne und das Ehepaar Dr. Leo und Ida Pins 1939

Nach seiner Rückkehr nach Höxter gingen die Demütigungen und Verfolgungen weiter. Zeitzeugen überliefern, dass er die Straßen fegen musste, dass er nächtens zusammengeschlagen wurde und wie alle jüdischen Bürger den verschiedensten Repressionen ausgesetzt war. Zu spät macht er in dieser Zeit den Versuch, aus Deutschland zu fliehen. Er wird mit seiner Frau in Frankfurt aus dem Zug geholt und in seine ›Heimat‹ zurückgebracht.
Selbstverständlich steht Dr. Frankenberg auch in diesen Jahren seinen jüdischen Mitbürgern zur Verfügung. Er ist bereit, im Herbst 1939 zusammen mit dem langjährigen Vorsitzenden Kaufmann Netheim und dem Tierarzt Dr. Pins den Vorstand der zwangsweise neugegründeten Jüdischen Gemeinde zu übernehmen, jetzt als Dr. Richard »Israel« Frankenberg, denn inzwischen soll die »Rasse« am Namen erkennbar sein.
Zwar sind für den Zeitraum zwischen Reichspogromnacht und Deportation bisher keine weiteren Einzeldokumente zugänglich gewesen; man kann sich aber vorstellen, was es hieß, wenn den Juden im Dezember 1938 die Führerscheine entzogen wurden, wenn sie im Februar 1939 Gold, Platin, Silber usw. verkaufen mussten, wenn ihnen ab September 1939 die Rundfunkgeräte weggenommen wurden, wenn zum 30.9.1940 ihre Telefonanschlüsse abgeschaltet wurden und wenn sie schließlich ab September 1941 den gelben Stern tragen mussten.
Als er kurz vor der Deportation eines Nachts von einer befreundeten Familie zurückkam, wartete schon Ortsgruppenleiter Maier auf ihn, der sich hinter einer Kastanie versteckt hatte, und verprügelte ihn.
Dr. Frankenberg weiß, was ihm bevorsteht. Er verschenkt die Dinge von Wert, die ihm geblieben sind, an seine wenigen verbliebenen Freunde. Und er bleibt Höxteraner: ›Seiner‹ Stadt, die ihn im Stich gelassen hat, schenkt er ein Bild seines Freundes und Malers Jochen Hoffmann von Fallersleben (Enkel des Dichters des Deutschlandliedes), ein Gemälde, das heute im Zimmer des Bürgermeisters hängt.

Deportation und Ermordung (1941–1944)

Am 9. oder 10.12.1941 wurde Dr. Frankenberg mit seiner Frau und einem Großteil der verbliebenen Höxteraner Juden, darunter auch seine Schwester Margarete, aus Höxter deportiert, und zwar zunächst nach Bielefeld. Von dort aus wurden sie nach drei Tagen weiterverschleppt in das zuvor durch die Liquidation von etwa 30.000 lettischen Juden »geräumte« Ghetto in Riga/Lettland und dort in den leeren Wohnblocks zusammengepfercht. Zunächst mussten die Verschleppten sich von dem ernähren, was sie in den Wohnungen vorfanden, und erhielten erst nach einigen Tagen ihre kümmerlichen Zuteilungen.
Es ist nicht möglich, hier das Leben und Sterben im Ghetto zu beschreiben. Ein paar Andeutungen können aber vielleicht eine kleine Ahnung vermitteln: z.B. dass schon der erste Winter sehr kalt war, es an Brennmaterial fehlte und den Juden außerdem die warme Winterbekleidung und Pelze weggenommen wurden; dass auf den Besitz von Zeitungen und Schriften die Todesstrafe stand; dass eine Zigarette am Arbeitsplatz oder das Kratzen wegen der allgegenwärtigen Flöhe mit sofortiger Erschießung geahndet werden konnte; dass alle Kinder abgetrieben oder, wenn sie »zufällig« geboren wurden, sofort getötet wurden; usw. usw.
Trotz allem versuchten sich die Menschen so etwas wie eine Heimat zu schaffen und benannten zum Beispiel die Straßen nach ihrer Herkunft: Kölner Straße, Leipziger Straße usw. Und so hat Dr. Frankenberg mit seiner Frau sicher in der Bielefelder Straße gewohnt.
Dr. Frankenberg muss den Sturz vom angesehenen Bürger ins Nichts besonders tief empfunden haben; denn es fiel ihm noch schwerer als manchen anderen, sich mit der Situation abzufinden. Trotzdem nahm er selbstverständlich seine Tätigkeit als Arzt im Krankenrevier auf und versuchte seinen Leidensgenossen zu helfen, so gut das unter den Ghettobedingungen möglich war. Sein Frau wurde ebenfalls zum »Arbeitseinsatz« herangezogen und arbeitete in einer Konservenfabrik.
Die Frankenbergs bleiben bis Herbst 1943 im Ghetto Riga. In diesem Zeitraum hat bereits die Räumung des Ghettos begonnen, wohl auch um einem Aufstand wie im Warschauer Ghetto zuvorzukommen. Die Menschen werden, soweit sie nicht ermordet werden oder bereits gestorben sind, in verschiedene neu errichtete Lager und »Kasernierungen« in der Umgebung Rigas verbracht.
Dr. Frankenberg und seine Frau kommen mit 2.000 Juden (nach anderen Angaben einigen tausend) in das Lager Strazdenhof (Strassenhof). Dort werden Männer und Frauen voneinander getrennt. Frau Frankenberg arbeitet mit anderen Frauen in einem Saal (?); und Dr. Frankenberg muss als einziger Arzt all die Menschen versorgen, überwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder. Das Lager Strazdenhof ist außerdem wegen seiner außerordentlich schlechten Lebensverhältnisse berüchtigt. Die Frankenbergs verbringen etwa ein dreiviertel Jahr dort. Beide sind Pfingsten 1944 noch gesund, und Dr. Frankenberg antwortet auf die Frage nach seiner Frau, es gehe ihr »zeitgemäß«.
Als die Front im Sommer 1944 näher rückt, werden die Lager nach und nach aufgelöst und die Insassen entweder liquidiert oder zunächst zurücktransportiert, vor allem ins KZ Stutthof bei Danzig. Die Angaben über die Liquidierung des Lagers Strazdenhof schwanken in Einzelheiten. Es steht jedoch fest, dass alle Kinder und alle Erwachsenen über 30-35 Jahren erschossen oder vergast wurden, und zwar zwischen dem 28.7. und dem 3.8.1944.
Folgt man den gerichtlich festgestellten Tatsachen über den Tod der Familie Frankenberg, so wurde Dr. Frankenberg am frühen Morgen des 29.7.1944 mit anderen Männern auf LKWs aus dem Lager gebracht und gegen 6 Uhr im Bikerniwald (im Pickernikschen Wald) erschossen. Gleich danach erlitt seine Frau dasselbe Schicksal.

Eine der Zeugenaussagen zum Tod des Ehepaars Frankenberg (1952)

Statt eines Nachworts: Hintergrund und Entstehung der Dokumentation

Als die Friedensinitiative Höxter Ende 1987 beschloss, ihre nächste Friedenswoche der Aufarbeitung der Geschichte der Juden in Höxter und ihres Schicksals im ›Dritten Reich‹ zu widmen, war in Höxter in dieser Hinsicht bis dahin nur wenig geschehen. Und auch über den in den Jahren der Weimarer Republik in Höxter beliebten Arzt Dr. Richard Frankenberg, an den sich ältere Höxteraner noch als ›Kinderarzt‹ erinnerten und der gelegentlich in Gesprächen erwähnt wurde, war in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt.
1954 war zum fünfzigjährigen Jubiläum des Abiturs im ›Omnibus‹ des Gymnasiums die Erinnerung eines Abiturienten aus dem Jahre 1904 erschienen und dazu ein Foto des Jahrgangs, das auch Richard Frankenberg zeigte, versehen aber nur mit dem beschönigenden Hinweis ›verstorben‹.
1973 hatte sich die Stadt nach längeren Diskussionen, wie ich hörte, bereit erklärt, eine Straße nach Dr. Richard Frankenberg zu benennen; und 1976 hatte die gebürtige Höxteranerin Annegret Köring ihre Staatsexamensarbeit zum „Schicksal der jüdischen Gemeinde Höxter in der Zeit des Dritten Reiches“ geschrieben, die aber weitgehend in den Regalen des Stadtarchivs zu verstauben schien.
Als ich 1988 begann, mich näher mit seinem Leben zu beschäftigen, gewann ich immer mehr den Eindruck, als sei dieses Schweigen nicht zufällig, sondern als habe man jahrzehntelang versucht, dieses individuelle Schicksal und das der Höxteraner Juden überhaupt zu verdrängen und zu vergessen, und als wolle man es auch weiterhin so halten, zumindest in der öffentlichen Diskussion.
Die ersten genaueren Informationen über das Elternhaus, die Schullaufbahn, das Berufsziel u.ä. erhielt ich aus dem Archiv des KWG, das mir uneingeschränkt zu Verfügung stand. In der Universität Göttingen konnte ich die Doktorarbeit einsehen sowie den dort abgedruckten Lebenslauf, und man kopierte für mich auch die entsprechenden Prüfungsakten, so dass ich den Werdegang bis zur Approbation rekonstruieren konnte, wobei Auskünfte der Universitäten München und Freiburg ein Zusätzliches taten.
Schwieriger wurde es jedoch, als ich mich an die Stadt Höxter wandte, um weitere Daten zu erhalten. Sogar für den bereits 1906 gestorbenen Vater Richard Frankenbergs machte man den Datenschutz geltend und verweigerte mir zusätzliche Auskünfte. Auch ein Gang zum Hauptamt der Stadt verwies mich nur auf einen Beschluss des Stadtrats, wonach ohne wissenschaftliche Begleitung durch einen Professor keine Daten zu Verfügung gestellt werden könnten.
Bei einem dieser Gänge wurde ich jedoch von einem zufälligen Besucher z.B. auf das Finanzamt und das Amtsgericht als weitere Quellen hingewiesen. Dort zeigte man sich sehr hilfsbereit, und ich konnte viele neue Informationen erhalten. Außerdem hatten Freunde aus der Friedensinitiative inzwischen alte Höxteraner gefunden, die bereit waren, über ihre Erinnerungen zu sprechen. So ergaben sich allmählich immer mehr Hinweise und Fakten, die es im November 1988 möglich machten, die Ausstellung der Friedensinitiative in Zusammenarbeit mit dem Museum Corvey anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht von November 1938 durch eine eigene Ausstellung über Dr. Richard Frankenberg zu ergänzen.
Auch die Stadt Höxter hatte sich allmählich immer zugänglicher gezeigt, zumal die Akten und Zeitungen des Stadtarchiv ja frei nutzbar waren, die ein deutliches Bild von Dr. Frankenbergs Wirken in den Jahren der Weimarer Republik zeichneten, wenn sie auch für den Zeitraum des ›Dritten Reiches‹ nur sehr unvollständig waren.
So entstand die vorliegende Biographie Dr. Frankenbergs. Inzwischen hat sich eine Reihe neuer Informationen ergeben, die noch eingearbeitet werden müssen. Die vorliegende Fassung gibt im wesentlichen den Stand von 1988 wieder und wurde nur in Einzelheiten ergänzt und korrigiert.

Nachtrag Die Haltung der Stadt hat sich inzwischen grundlegend verändert, und zur Kritik gibt es keinen Anlass mehr.

Zu den Geschwistern von Dr. Richard Frankenberg

Fritz Ostkämper, 1988/2010
e-mail: ostkaemper@jacob-pins.de